Zur Geburtenrate in Deutschland und Europa

Auch eine Frage der Mentalität

Die Statistiken dürften Familienministerin Ursula von der Leyen derzeit eher verdrießlich stimmen: Immer mehr kinderlose Frauen, Deutschland das Schlusslicht beim Verhältnis von Kindern pro Einwohner. Aber was bedeuten die Zahlen? Und was die möglichen Folgen? Eine Analyse.

Autor/in:
Christoph Scholz
 (DR)

Vor knapp einer Woche konstatierte das Statische Bundesamt, dass die Zahl kinderloser Frauen in Deutschland zunimmt, vor allem bei westdeutschen Akademikerinnen. Am Montag teilte dann das Europäische Statistikamt Eurostat in Brüssel mit, dass die Deutschen 2008 das Schlusslicht beim Verhältnis von Kindern pro Einwohner bilden. Trotz Elterngeld und Krippenausbau gibt es demnach in der Bundesrepublik rechnerisch nur 8,2 Kinder pro Tausend Einwohner.

Ein Sprecher des Bundesfamilienministeriums wies die Zahlen gegenüber "Spiegel-online" umgehend als "entweder falsch oder veraltet" zurück. Das Statische Bundesamt bestätigte gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), dass sich Brüssel bei den zugrundegelegten 675.000 in Deutschland geborenen Kindern, tatsächlich auf vorläufige Zahlen beruft. Denn seit kurzem geht das Bundesamt von 682.500 Geburten für 2008 aus.

Die Referatsleiterin für Bevölkerungsentwicklung, Bettina Sommer, meint "dass diese Zahlen sich jetzt nicht mehr wesentlich verändern werden". Damit würde Deutschland von 8,2 auf 8,3 Geburten pro 1.000 Einwohner rutschen. Und im Familienministerium kann man damit festhalten: "Die Zahl der Geburten ist stabil." Die Brüsseler Statistik hatte Deutschland hingegen als einzigem EU-Land einen Geburtenrückgang attestiert. Schaut man allerdings auf die statische Schwankungsbreite, lassen sich wohl beide Aussagen rechtfertigen.

"Das schwankt sei Jahren auf relativ niedrigem Niveau"
Für Sommer sind diese Zahlen aber ohnehin wenig aussagekräftig:  "Will man wissen, ob sich etwas am Geburtenverhalten ändert, muss man die durchschnittliche Kinderzahl je Frau heranziehen", so Sommer. Diese liegt für 2008 noch nicht vor. 2007 lag sie bei rechnerisch 1,37, ein Jahr davor bei 1,33 Kindern pro Frau. "Das schwankt sei Jahren auf relativ niedrigem Niveau", so die Expertin. Sorge bereitet dem Bundesamt dabei vor allem die wachsende Zahl an kinderlosen Frauen.

Zum Negativtrend bei der Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik trägt auch die EU-weit höchste Sterberate mit 10,3 Sterbefällen pro 1.000 Einwohner bei. Der EU-Schnitt lag stabil bei 9,7. Im Saldo bedeutet dies ein Bevölkerungsrückgang auf rund 82,1 Millionen Menschen.

Ganz anders sieht die Lage bei den großen Nachbarn in Westeuropa aus. Frankreich, Spanien, Großbritannien oder Italien - alle verzeichnen einen teils deutlichen Bevölkerungszuwachs. Die Zahl der EU-Bürger stieg in einem Jahr von 497,7 auf rund 500 Millionen. Den Hauptanteil hatten dabei aber die Zuwanderer mit 2,1 Millionen. Der Geburtenüberschuss lag bei 600.000.

Doch wie ist die größere Geburtenfreudigkeit in anderen Ländern zu erklären? Jürgen Dorbritz vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung führt dies auf andere Mentalitäten zurück, die sich über Jahrzehnte entwickelt haben. "Irland: Katholisch mit traditionell vielen Kindern", meint er bündig. In Frankreich gebe es hingegen seit Jahrzehnten eine gezielte Familienpolitik, die auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf setze - "auch wenn die Frauen nicht alle erwerbstätig sind". Für Deutschland fordert er einen Wertewandel, "der Familie stärker betont".

"Völlige Vernachlässigung der Mehrkindfamilie"
Dem Bundesgeschäftsführer des Deutschen Familienverbandes (DFV) Siegfried Stresing, ist dabei vor allem eines wichtig: "die Anerkennung der Mehrkindfamilie". In Frankreich sei dies eine Selbstverständlichkeit. Hinzu komme hierzulande eine "strukturelle Rücksichtslosigkeit, einschließlich Klagen gegen Kinderlärm und Kitas".

Die "völlige Vernachlässigung der Mehrkindfamilie" hält er auch der Politik vor. Schon statistisch werde ab drei Kindern nicht mehr unterschieden. Und jede Fördermaßnahme werde inzwischen als "Herdprämie" diffamiert, so Stresing. Der DFV-Vertreter begrüßt den Ausbau der Kitaplätze, moniert aber zugleich eine "einseitige Ausrichtung der Familienpolitik auf die Erwerbsorientierung". Von einer künftigen Regierung erwartet sich Stresing deshalb vor allem "mehr Rücksicht auf Mehrkindfamilien" und eine "stärkere Beachtung der Wertefrage". Denn dabei geht es ihm "um die kulturellen und religiösen Beweggründe, die Zuversicht und Zukunft eröffnen und die Entscheidung für die Familie fördern".