Es war eine denkwürdige Nachrichtenlage für Christen in Deutschland am 8. Januar 2014: Das liberale Leitmedium „Die Zeit“ berichtete unter Berufung auf das Christliche Hilfswerk „Open Doors“ unter dem Titel: „Diskriminierung. Extremistischer Islam verschärft Christenverfolgung“, dass weltweit „fast 100 Millionen Christen unter schlimmen Repressalien“ litten. Zugleich meldete „Die Zeit“ das Outing des deutschen Profifußballers Thomas Hitzlsperger. Die oft lebensbedrohliche Diskriminierung von Christen wurde zwar auch von einigen anderen Printmedien und Nachrichtensendungen thematisiert, allerdings eher unter „ferner liefen“; indes führte das Thema der Diskriminierung Homosexueller im Fußball zu einem Medienhype auf allen Kanälen. Das sagt einiges über zunehmend auseinanderklaffende gesellschaftliche Wertigkeiten: „Fußball ist unser Leben“ (WM-Song 1974), Liebe und Sexualität sowieso. Wo beides sich auch noch kreuzt, ist der Nachrichtenwert garantiert. Während „König Fußball“ die Menschen zu Hochämtern in Stadion-„Kathedralen“ strömen lässt, dringt das „Christus König, Christus Sieger“ der Gläubigen kaum noch öffentlich durch, und die Kirchen leeren sich. Entsprechend schwach ist die Resonanz für den Skandal der Christenverfolgung, die in den milderen Formen sozialer Diskriminierung längst kein rein außereuropäisches Phänomen mehr ist. Christophobie wird auch in unserem Land virulenter.
Liegt die säkulare Mediengesellschaft also wieder einmal total daneben mit ihren Maßstäben und Aufmerksamkeitsproportionen? Einzelne, auch christliche Stimmen im Internet und in den sozialen Medien schimpften oder mokierten sich schon in diesem Sinne. Hitzlsperger sei auch gar nicht mutig, wirklichen Mut hätte es dafür etwa im nationalsozialistischen Deutschland gebraucht, wiegeln sie ab. Andere geben sich demonstrativ gleichgültig: „Na und?“, „Wen interessiert’s?“ Der Mann solle mit seiner Sexualität nicht die Öffentlichkeit behelligen, Heterosexuelle würden sich ja schließlich auch nicht entsprechend erklären. Doch hinter der bekundeten Wurstigkeit versteckt sich nur mühsam der Ärger über den gelungenen Coup der als gegnerisch identifizierten gesellschaftspolitischen Partei.
Humanitäres Versagen durch moralische Stumpfheit
Aus der komfortablen Position einer mindestens 90prozentigen sexuellen Mehrheitsidentität lässt sich die öffentliche Irrelevanz einer Minderheitsidentität freilich leicht behaupten und die Courage, diese offen zu bekennen, leicht in Abrede stellen. Das unechte, saloppe, zynische Reden solcher Kommentatoren ist des Christentums unwürdig. Es spiegelt aber leider jenes humanitäre Versagen durch moralische Stumpfheit und einen eklatanten Mangel an Empathie wieder, das in kirchlich-konservativen Kreisen gegenüber der seelischen Not und äußeren Bedrängnis Homosexueller immer noch so verbreitet ist wie die pöbelnde Homophobie in der Kurve vieler Fußballstadien. Da wird sogar Putin als Verbündeter der christlichen Sache gepriesen und als Vorbild für die hiesige Sexualpolitik empfohlen; er sei ja auch „praktizierender Christ“. Dümmer geht’s nimmer.
Die breite gesellschaftliche Akzeptanz und mediale Zuvorkommenheit gegenüber Homosexuellen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in beträchtlichen Segmenten der Bevölkerung und auch der drei christlichen Konfessionen noch immer eine verächtliche Haltung und verhöhnende Diktion gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe gibt. Der Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz, Michael Diener, sagte jüngst im evangelischen Medienmagazin PRO: „Ich glaube, dass wir uns als Evangelikale grundsätzlich schwer tun mit allem Fremden, Andersartigen. Mich wundert, dass die Liebe Gottes, die uns doch so wichtig ist, oft zu lieblosem Verhalten führt.“ Sein Vorgänger Jürgen Werth war 2011 beim Kirchentag in Dresden noch deutlicher geworden: „Ich möchte mich für alles Schlimme entschuldigen, was Homosexuelle durch Evangelikale erfahren haben.“ Ein ähnliches Eingeständnis von katholischer Seite steht noch aus.
Kampf gegen die Gender-Ideologie
Fokussiert auf den Kampf gegen die Gender-Ideologie, verlieren christlich-konservative Eheschützer bisweilen die Differenzierungsfähigkeit und Angemessenheit der Sprache sowie den wohlwollenden Blick auf die Liebessehnsucht und Liebesfähigkeit jeder einzelnen Person, die aufs Engste mit ihrer Menschenwürde verbunden ist. Dem Satz der Genesis: „Als Mann und Frau schuf er sie“ geht logisch die Aussage voraus: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Dem trägt der katholische Weltkatechismus mit der Erwägung einer „selbstlosen Freundschaft“ Rechnung, in der Homosexuelle ihre „nicht selbst gewählte“ Disposition leben könnten. Freilich so keusch wie Heterosexuelle außerhalb ihres Ehebetts – was für die Kirche eine Herausforderung ganz anderer Größenordnung sein dürfte als die Beschäftigung mit der homosexuellen Minderheit. Diese zu diskriminieren solle man „sich hüten“ und ihr mit Achtung, Mitgefühl und Takt begegnen, schärft der Katechismus ein.
Thomas Hitzlsperger hat sich im April 2010, ebenfalls in „Die Zeit“, dazu bekannt, getauft, katholisch erzogen und aufgewachsen zu sein. Er sei als Kind häufig in der Kirche gewesen, ohne sich mit dem Glauben intensiv auseinandergesetzt zu haben. „Über die Jahre bin ich dann vom kirchlichen Glauben abgekommen. Für viele Menschen gibt die Kirche als Institution jedoch Halt und ist wichtig, was ich gut finde.“ Das klingt ehrlich und fair, obwohl er sich in seiner damaligen Situation bereits von der Kirche ins Abseits gestellt fühlen konnte. Acht Jahre lang hatte er sich bemüht, mit einer Frau zusammen glücklich zu werden – und erst wenige Wochen vor der geplanten Hochzeit die Notbremse gezogen. Man kann nur erahnen, welches innere Ringen er da hinter sich hatte – und welches noch vor ihm lag bis zur Befreiung aus der jahrelangen Selbstverleugnung, wenn etwa die tonangebende Mehrheit sich durch Schwulenwitze amüsierte oder Spielfehler auf dem Fußballplatz als „schwule Pässe“ karikierte. Lebensgefährlich ist das zwar für halbwegs gefestigte Persönlichkeiten nicht, aber eine Drangsal, die man niemandem wünscht, ist es durchaus. Manchen jungen Menschen trieb diskriminierendes Gerede schon in den Suizid.
Tiefgreifende Verunsicherung in der katholischen Kirche
Es hat daher durchaus etwas Berührendes, wenn die säkulare Gesellschaft, von der sonst beklagt wird, dass jeder nur für seine eigenen Interessen kämpft und die Einfühlung in andere oft unterentwickelt zu sein scheint, wenn also diese Mehrheitsgesellschaft heterosexuell Empfindender einen 31jährigen schwulen Fußballer in die Arme schließt und auf seinen existenziellen Akt mit hoher Aufmerksamkeit und Anteilnahme reagiert. Dabei mögen zwar Sensationslust, Quoten- und Gewinnkalkül, Ideologie und stellvertretender Freispruch für eigene geheime Normverstöße mitspielen. Doch im Kern ist diese starke Reaktion zutiefst mitmenschlich, christlich gesprochen brüderlich und gesünder als manches, was im Namen moralischer Ordnung auf die Bühne tritt.
Ein Sprecher der EKD hat Hitzlspergers Schritt als ermutigend und beispielgebend gewürdigt. Und die katholische Kirche? Abgesehen von einer wohlwollenden Äußerung des Olympiapfarrers der Deutschen Bischofskonferenz herrscht dort ein Schweigen, das der eigenen, tiefgreifenden Verunsicherung bei dem Thema entspricht. Selbst diözesane Beauftragte für die Seelsorge an Homosexuellen wollen oder sollen sich nicht äußern. Das Spannungsfeld von Lehre und Pastoral ist vermintes Terrain. Hinzu kommt der „Glashaus“-Effekt nach der Enthüllung sexueller Übergriffe von Klerikern auf Heranwachsende – weit überwiegend des gleichen Geschlechts – sowie „homosexueller Seilschaften“ sogar in der Herzkammer der Weltkirche. Hier steht kirchliche Glaubwürdigkeit wie bei wenigen anderen Themen auf dem Spiel.
Rückenwind aus Rom
Dass es nach „Hitz, the Hammers“ Volltreffer auf die Macho-Bastion Fußball noch einsamer wird um die katholische Kirche, kann für sie noch kein Grund sein, die eigene Lehrtradition zu widerrufen. Die Mehrheit ist nicht das Maß einer Kirche. Andererseits ist die zunehmende Isolation auch nicht automatisch ein Indiz dafür, ganz in der Wahrheit zu sein und dafür halt leiden zu müssen. Eine stete kritische Selbstüberprüfung im Dialog mit den Human- und Sozialwissenschaften ist für die christliche Ethik unverzichtbar. Es wäre nicht das erste Mal, dass moralische Kirchenlehren im Lichte säkularer Erkenntnisfortschritte modifiziert werden müssen. Dafür reicht schon ein Blick ins „Handbuch der katholischen Sittenlehre“ von 1950.
Kardinal Schönborn sagte 2010 in Wien: „Beim Thema Homosexualität sollten wir stärker die Qualität einer Beziehung sehen. Und über diese Qualität auch wertschätzend sprechen. Eine stabile Beziehung ist sicher besser, als wenn jemand seine Promiskuität einfach auslebt.“ 2012 bestätigte er einen in homosexueller Partnerschaft lebenden Pfarrgemeinderat im Amt und erklärte sich „von seiner gläubigen Haltung, seiner Bescheidenheit und seiner gelebten Dienstbereitschaft sehr beeindruckt“. Kardinal Woelki anerkannte beim Mannheimer Katholikentag eine „Ähnlichkeit“ mit heterosexuellen Beziehungen, wo „zwei Homosexuelle Verantwortung füreinander übernehmen, wenn sie dauerhaft und treu miteinander umgehen“. Kardinal Meisner schloss 2010 seine Antwort auf den offenen Brief eines Betroffenen mit dem Vorschlag: „Auch wenn ein Homosexueller die kirchliche Sicht nicht uneingeschränkt übernehmen will, können beide Seiten gemeinsame Ziele entdecken und sich z.B. energisch dafür einsetzen, dass Homosexuelle nicht diskriminiert werden, dass abfällige Äußerungen über Homosexuelle aus unserer Alltagssprache verschwinden und dass Stammtischgeschwätz seiner Plattheit überführt wird. Ich denke, das wären lohnende Ziele.“
Abhängigkeit vom Urteil anderer
Dies sind nur behutsame Akzentverschiebungen. Inzwischen allerdings mit Rückenwind aus Rom. Nicht im Sinne einer Relativierung des Leitbilds der Ehe von Mann und Frau, wohl aber zugunsten einer Zurückhaltung im Urteil –„Wenn jemand homosexuell ist und Gott sucht und guten Willen hat, wer bin ich, ihn zu verurteilen?“ – und einer demonstrativen Inklusion homosexueller „Brüder und Schwestern“ durch Papst Franziskus.
Thomas Hitzlsperger ist zu wünschen, dass er an seine Kindheit mit der Kirche eines Tages wieder anknüpfen kann. Sein Coming Out scheint ihn zwar noch weiter von ihr entfernt zu haben. Doch könnte er sein befreiendes „Zu-sich-Finden“, seinen radikalen Schritt aus der Abhängigkeit vom Urteil anderer heraus, als eine im Grunde christlich-spirituelle Erfahrung zu deuten lernen. Es gibt nur einen maßgeblichen Richter. Der hat seine Geschöpfe ganz individuell „beim Namen“ und „zur Freiheit berufen“. Wer könnte darauf besser als ein Mittelfeldspieler mit dem Psalmisten antworten: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“