Zur Verwandtschaft von Religion und zeitgenössischer Literatur

Wie fromm ist der Bücherfrühling?

Unzählige neue Romane erscheinen in diesem Bücherfrühling. Die Autoren tummeln sich auf den großen Events wie der LitCologne und der Leipziger Buchmesse. Doch welche Rolle spielt Religion in der Belletristik? Eine Spurensuche.

Eva Menasse / © Ekko von Schwichow
Eva Menasse / © Ekko von Schwichow

Große Gesten sind ihm nicht fremd. Die gestattet man ihm auch, schließlich hat Martin Walser einen großen Berg Zeit- und Literaturgeschichte auf dem Buckel. Auf der Lit.Cologne in Köln holt er tief Luft, er weiß um die wirkmächtige Kraft einer Staupause – und dann, dann ruft er den Kölner Dom als Zeugen herbei, denn der erlaube es ihm, doch einmal darauf hinzuweisen, wie eng verwandt die Literatur mit der Religion sei. "Welterklärer gibt es in diesen Tagen mehr als genug", sagt Walser, "aber kommt es nicht auf die Weltverklärer an, die uns in der Literatur und in der Religion begegnen?" Walsers neues Buch "Ein sterbender Mann" lotet den Skandal des Todes aus, dem nur ein verklärter "Lichtblitz" gewachsen ist. Was das denn sei, ein Lichtblitz, wird er gefragt. "Kein Begriff aus der Physik – dort mir nicht bekannt", sagt Walser. Wir begeben uns in diesem Bücherfrühling auf die Spur der Weltverklärer und Weltverwandler und treffen zunächst Eva Menasse, die aus einer halb jüdischen, halb katholischen Familie stammt.

Der Roman habe in gewisser Weise versucht, die Literatur abzulösen, sagt die Autorin, die gerade aus dem "Paradies" zurückkommt. Ein Jahr lang war sie als Stipendiatin in der Villa Massimo in Rom, und jetzt sitzt sie im Schatten des Kölner Doms und sagt: "An einer bestimmten historischen Stelle haben die religiösen Erzählungen nicht mehr geholfen, und da ist der Roman in die Bresche gesprungen." Literatur sei allerdings etwas, was uns nicht unbedingt Antworten gebe, aber doch helfe, die großen Fragen besser zu verstehen und habe deswegen viel mit Religion gemeinsam.

Ruf nach Gott in höchster Not

Wo sind die Schnittstellen zwischen Literatur und Religion? Wir nehmen einen Bestsellerautor dieses Bücherfrühlings unter die Lupe und verabreden uns mit Heinz Strunk, der zurzeit von allen Rezensenten hoch gelobt wird. Strunk hat mit Religion und Frömmigkeit eher nichts am Hut. Man nennt ihn auch einen coolen Comedian, für den sich die Welt nur dann richtig und rund zu drehen scheint, wenn sie witzig und für eine Pointe gut ist. Jetzt hat er einen Roman über den Frauenmörder Fritz Honka geschrieben, der in den siebziger Jahren vier Frauen auf bestialische Weise tötete. Strunk steigt in die Abgründe des menschlichen Daseins und obwohl dieser Sumpf aus Drogen, Gewalt und kaputter Typen auch grotesk komische Züge hat, bleibt am Ende doch der unparfümierte Gestank des kaum zu ertragenden Elends. "Mehr Schrecknis geht wohl nicht", sagt Strunk.

Und was tun seine "höllenabwärts" fahrenden Helden? Sie rufen Gott an – immer drei Mal, nur von einem "oh" oder von einem "ach" Gott unterbrochen. "Durchgehend gibt es in meinem Roman diesen Ruf der höchsten Not", erklärt Strunk – und ebenso durchgehend fragt er: "Was ist das für ein Gott, der so etwas zulässt?" Es verwundert, dass in den vielen hymnisch lobenden Kritiken zu dem Buch die ausdrücklich formulierte Theodizee-Frage keine Erwähnung findet. Vielleicht erscheint das den Rezensenten als historisches Beiwerk, altes Mobiliar, das zur Maskerade der siebziger Jahre gehörte, eine Zeit, in der man Gott eben noch leichter auf den Lippen hatte als in unserer durchsäkularisierten Welt. "Nö, stimmt nicht", sagt Strunk, diese Anrufung Gottes in höchster Not sei immer geblieben – auch für ihn, der sich als Agnostiker bezeichnet, "weil Atheist so hart und böse klingt". Die metaphysische Welt sei ihm allerdings fremd genauso wie die psychologisierenden Erklärungen, die menschliche Untaten aus Kindheit und Jugend abzuleiten versuchen und mit ihren Erklärungen natürlich auch bestialischste Verbrechen entschuldigen: "Davon halte ich gar nichts", sagt Strunk. Aber was bleibt dann? Wo gibt es Trost, Rettung, Erlösung. "Schwierig", meint Strunk und überlegt kurz, zuckt die Achseln und sagt: "In der säkularisierten Welt gibt es da metaphysisch nichts mehr zu holen", und der Tod sei die absolute Schranke, die für ihn als unverrückbare Grenze jedes Leben auslösche: "Hoffen auf ein Jenseits fällt da auch weg".

Weshalb das alles?

Schwierig findet es auch Peter Stamm über Gott zu sprechen. In Schubladen, die mit Überschriften wie Atheist, Agnostiker oder gläubiger Christ überschrieben sind, fühlt er sich unwohl. In seinem aktuellen Roman "Weit über das Land" verlässt er das "Gravitationsfeld" eines Dorfes und bewegt sich ungebremst durch den Raum, hinein "in das unerforschte Gebiet der Nacht". Es sei ein Roman, der die Fragen des drohenden Verschwindens und des Todes thematisiere, gewidmet seinem verstorbenen Freund, dem spanischen Verleger Jaume Vallcorba Plana, sagt Stamm. Der Autor fragt, wie man die verrinnende Zeit aufhalten kann. Sein Held verschwindet aus einem glücklichen Alltag – und sucht nach der "Allgegenwärtigkeit" - ohne Vergangenheit und Zukunft. Hier klingt eine Spiritualität durch, die auch bei den Mystikern des Mittelalters zu finden ist, immer ausgehend von der großen Frage, die Stamm in seinem Buch auch so direkt formuliert: "Weshalb das alles?".

Das Leben und die Welt verklären. Darum geht es im neuen Roman von Anna-Katharina Hahn "Das Kleid meiner Mutter". Die Autorin verwandelt die Wirklichkeit. Ana, eine junge Frau aus Madrid, erlebt, wie sich ihre Eltern verpuppen und klein werden. Die Romanheldin schlüpft in das Kleid ihrer Mutter und lernt eine Frau kennen, die ihre Welt auf den Kopf stellt. "Sich die Maske aus Haut vom Gesicht reißen, sich einer anderen Welt anzuverwandeln", darum geht es in dem viel gelobten Buch der Stuttgarter Autorin. Wandlung und Verwandlung sind Themen, mit denen sie spielerisch im ernsten und besten Sinn umgeht. Sie selbst ist gläubige Katholiken, weit davon entfernt eine katholische Autorin zu sein, aber doch eine Autorin, die katholisch ist. Auf dem Katholikentag in Leipzig gestaltet sie einen Bibelimpuls und stellt dort auch ihren neuen Roman vor. Ohne den Glauben an Gott könne sie sich die Welt nicht vorstellen, sagt sie – und empfindet ihren Glauben als befreiend im Wirrwarr der Wahrheiten, die heute auf uns einprasseln. "Ich bin ein spiritueller Mensch", sagt sie, "und ich werde nie aufhören, die Frage nach Erlösung zu stellen und wie wir unser Erdendasein leben - im Hinblick auf das, was größer ist als wir selber, und wie wir damit umgehen".

Gott und das Flüchtlingskind

Michael Köhlmeier empfängt uns in seinem Hotelzimmer im Kölner Wasserturm. Er ist ein stiller, ein herzlicher Mann. In seinem Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut" stellt er ein kleines Mädchen an die Seite Gottes, und das Mädchen, ein verlorenes Kind aus einem fremden Land, sieht uns an, ganz am Ende seiner Geschichte fragt er. "Kannst du sie sehen? Kannst du die beiden sehen?". Er begleitet das sechsjährige Kind, das alles verloren hat und eine neue Heimat sucht, durch einen kalten Winter in einer westeuropäischen Stadt. Sein Roman ist viel mehr als eine Sozialreportage. Die Augen des Mädchens sind groß und klar, es will einfach nur leben, aber die Menschen, die dem Kind begegnen, verstehen es nicht – und so bleibt ihr frierender kleiner Körper schutzlos, wie das Kind im Märchen vom "Mädchen mit den Schwefelhölzern" von Hans Christian Andersen, findet sie weder Liebe noch einfühlsame Obhut. "Wenn es wahr ist, dass an Gottes rechter Seite sein Liebling steht, bei allem, was er tut, was er pflanzt und segnet, wenn das wahr ist, so hör die Schritte, die kleinen, die großen, das Trippeln und das Stampfen! Warte bis sich deine Augen an die Dunkelheit gewöhnen! Und nun? Kannst du sie sehen?" fragt Köhlmeier in seinem Buch.

Kalt ist es auch im Roman "Macht" von Karen Duve. Das Ende der Welt ist nicht mehr weit und jeder will am Endzeitbuffet noch einen großen Happen in sich hineinstopfen. Duves Welt ist gottverlassen. Religion hilft auch nicht weiter. Im Gegenteil: "Religionen sind totalitäre Systeme, und die Sehnsucht des Menschen nach Religion ist die Sehnsucht des Menschen nach totalitären Systemen", heißt es in dem Buch. In Politik und Religion haben die extremen Parteien und Positionen alle Macht an sich gerissen. Für eine komplexe Weltbetrachtung ist kein Platz mehr. Karen Duve besucht uns im domradio.de-Studio. Und sofort geht es los. Spannend ist es, sich mit der bekennenden und munter auftretenden Atheistin über Religion und Gott zu streiten – immerhin ist der Glaube für sie ein so großes Thema, dass sie sich in der atheistischen Giordano Bruno Stiftung engagiert. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen in der säkularen Welt gibt es bei ihr immerhin diesen Anknüpfungspunkt Gott noch. Ihr Bild der Religionen ist eher mittelalterlich, vorkonziliar und statisch. Sie traut den Menschen nicht zu, einer aufgeklärten Theologie, die Vernunft, Freiheit und Glaube vereint, zu folgen. "Die einfachen, totalitären Systeme werden siegen", sagt sie – "Wollen wir noch mal sehen", meine Antwort.

Religiöse Inspirationen beim Schreiben

"Für mich ist das alte Testament die erste Literatur", hat Eva Menasse gesagt, die in Rom durch die Zumutung, die das Paradies sei, Erlösung gefunden habe, wie sie sagt. Sie hat im Garten Eden der Villa Massimo in der Heiligen Stadt eine gnadenlose Selbstkonfrontation erlebt – "eine Selbstbefragung, die so unerträglich wie das Paradies ist". Leichthändig benutzt sie große religiöse Begriffe, ohne Angst in Kitsch oder Pathos zu verfallen. "Ich habe nur Angst vor der coolen Hippness, mit der man sich von diesen Begriffen heutzutage frei spielen will und glaubt, man käme ohne sie aus". Ihr Schreiben sei auch von einer religiösen Inspiration geprägt. Ein Freund, ein Maler habe ihr einmal erzählt, er gehe jeden Tag zur selben Wiese und mähe sie, weil die Wiese der Helikopterlandeplatz für seine Inspiration sei. Die Inspiration komme nicht jeden Tag, aber man müsse die Wiese gemäht halten, damit der Helikopter, wenn er dann mal komme, auch landen könne. "Wenn sie darüber nachdenke", sagt Eva Menasse, "dann ist das doch mit Gott sehr ähnlich. Man geht in die Kirche und betet. Dabei hat man aber nicht immer eine Verbindung zu Gott – aber man gibt ihm die Möglichkeit."


Heinz Strunk / © Dennis Dirksen
Heinz Strunk / © Dennis Dirksen

Martin Walser / © Philippe Matsas Opale
Martin Walser / © Philippe Matsas Opale
Quelle:
DR