Der erste Besuch im Lieblingscafe oder die erste Umarmung von einem alten Freund: Viele Menschen freuen sich auf diese "ersten Male", die sie in anderen Zeiten kaum bemerkenswert gefunden hätten. Andere fühlen sich überfordert, wenn in kurzer Zeit vieles in jene Bahnen zurückkehrt, die vor der Pandemie als "normal" galten.
Es sei wichtig, einfühlsam miteinander umzugehen, mahnte kürzlich die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Margrethe Vestager. "Wir alle wollen nun feiern wie in den Roaring 20s, aber Menschen könnten auch unter einer Art posttraumatischem Stress-Syndrom leiden: Du hast gelitten, und nun wird von dir auf einmal erwartet, wieder glücklich zu sein", sagte die Politikerin der Süddeutschen Zeitung.
Auch Papst Franziskus warnte unlängst vor "verheerenden psychologischen Auswirkungen" der Pandemie. Die Menschen reagieren unterschiedlich, bestätigt Julia Scharnhorst, Fachbereichsleiterin Gesundheitspsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen.
Angst vor der vierten Welle
Angesichts der Warnungen vor einer vierten Corona-Welle oder neuen Mutationen seien manche Menschen weiterhin vorsichtig - vor allem diejenigen, die sich durch Vorerkrankungen, das eigene Alter oder pflegebedürftige Angehörige besonders verletzlich fühlten.
Und: "Ein weiterer Aspekt ist die Frage, wie belastend Menschen die Einschränkungen erlebt haben." Der eine ist froh, endlich wieder Kollegen zu treffen; die andere hat es genossen, dem Stau auf dem Arbeitsweg und dem Lärm im Großraumbüro zu entgehen. Manche sind erschöpft von der Belastung durch Homeoffice, Homeschooling und Haushalt; andere sind vereinsamt.
Impulsvorträge von der "Glücksministerin"
"Dieser persönliche Leidensdruck spielt eine wichtige Rolle", sagt Scharnhorst - auch bei der Frage, wie Menschen mit den Öffnungen umgehen. Viele freuten sich darüber, dass sie langersehnte Aktivitäten wieder aufnehmen könnten, sagt Gina Schöler, die als "Glücksministerin" etwa Impulsvorträge, Workshops und Coaching anbietet.
"Man merkt, dass wir Menschen-Entzug hatten." Gleichzeitig fragten sich viele: "Geht das nicht ein wenig zu schnell?" Es gelte, wachsam zu bleiben und Rücksicht zu nehmen, so ihr Appell - und sich selbst etwas "Anlaufzeit" einzuräumen: "Von 0 auf 100 zum unbeschränkten Leben ist viel." Manchmal zu viel.
Diese Wahrnehmung ist leicht erklärbar. "Wenn man etwas sechs Wochen lang regelmäßig macht, bilden sich Gewohnheiten", erläutert Psychologin Scharnhorst. Das Coronavirus ist nun seit über einem Jahr zum Begleiter geworden. Viele seien in eine gewisse Lethargie verfallen, sagt Scharnhorst.
39 Prozent der Deutschen haben zugenommen
So haben laut Studien haben 39 Prozent der Deutschen an Gewicht zugenommen. Die Pandemie habe Spuren hinterlassen, sagt auch Schöler. "Manche davon werden wir noch lange merken. Neben allen wirtschaftlichen, strukturellen und gesellschaftlichen Auswirkungen merken wir an uns selbst, wie herausfordernd die Situation war und immer noch ist."
Da sei es nicht erstaunlich, dass viel Trubel, viele Treffen und Termine nun eine gewisse "Reizüberflutung" mit sich brächten. Wem es schwerfalle, das Aktivitätslevel wieder hochzuschrauben, der könne dies auch positiv sehen, betont Scharnhorst.
Entschleunigung durch Erfahrung
"Viele Leute haben vor Corona auf einem hohen Stresslevel gelebt, und vielleicht ist es gar nicht wünschenswert, alles zurückzudrehen und genauso hektisch weiterzuleben." Offenbar haben viele Menschen dem veränderten Leben durch die Krise auch Positives abgewonnen - so erklärte eine Mehrheit in einer Umfrage, im ersten Corona-Jahr den Frühling bewusster erlebt zu haben.
Entschleunigung, Zeit für die Familie oder für fast vergessene Hobbys: Was in der Krise gut getan hat, könnte danach erhalten bleiben. Dafür rät Scharnhorst, sich selbst zu befragen: "Was möchte ich? Mit wem will ich mich treffen und wie häufig? Welche Aktivitäten tun mir gut?"
Die aktuelle Phase könne bewusst gestaltet und als Chance genutzt werden - auch im Austausch mit anderen. So ließen sich Kompromisse finden, wenn jeder die eigenen Wünschen äußere, aber auch Sorgen. Ein Kompromiss bei unterschiedlichen Empfindungen könne es beispielsweise sein, nicht in den "beliebten, rappelvollen Biergarten" zu gehen, sondern im Park zu picknicken.