HIMMELKLAR: In welcher Situation erwische ich Sie gerade?
Katarina Barley (SPD-Abgeordnete und Vizepräsidentin des Europaparlaments): Ich habe gerade meine dritte Videokonferenz für heute hinter mir, ich sitze jetzt auf dem Sofa mit meiner Katze, habe meinem Sohn gerade ins Home-Schooling einen kleinen Imbiss reingereicht und mein zweiter Sohn ist gerade erst aufgestanden und duscht.
HIMMELKLAR: Wir müssen dazu sagen, dass wir um 11.00 Uhr aufzeichnen. Nicht, dass sich die Leute das um 18.00 Uhr anhören. Wie sieht das Arbeitsleben bei Ihnen im Moment aus? Wie bekommen Sie Arbeit und Familienleben unter einen Hut?
BARLEY: Besser als sonst, ehrlich gesagt, weil ich natürlich jetzt auch Zuhause bin und dadurch meine Kinder und meinen Liebsten viel häufiger sehe. Dafür hänge ich quasi ununterbrochen an elektronischen Geräten entweder am Ohr oder im Gesicht, was ich gewöhnungsbedürftig finde. Ich bevorzuge die direkte Begegnung mit Menschen.
HIMMELKLAR: Schauen wir mal, wie das alles losgegangen ist. Wir sind jetzt inzwischen in der siebten Woche Ausnahmezustand, ich habe mir mein Mikrofon und Laptop auch hier am Küchentisch aufgebaut. Die Zeit als das losgegangen ist, das war ja für uns alle ein bisschen überstürzend. Wie haben Sie das erlebt?
BARLEY: Also ich habe relativ früh das Gefühl gehabt, dass hier etwas größeres auf uns zu kommt. Bis so ein Tanker, wie das europäische Parlament sich dazu entschließt, alles auf den Kopf zu stellen, da muss ja schon wirklich etwas passieren. Als es dann hieß: "Bitte kommt nicht mehr nach Brüssel", als sogar die Straßburg-Plenarwochen abgesagt wurden, das ist ja immer so eine heilige Kuh der Franzosen, da merkte man, dass das wirklich ernst ist.
HIMMELKLAR: Wie ging das dann konkret alles los? Von heute auf morgen Büro ausräumen oder wie kam das?
BARLEY: Naja, wir sind ja immer unterwegs. Deswegen haben wir unsere Infrastruktur schon eher dezentral. Also wir haben immer mobile Devices auch dabei, wir haben Büros in den Mitgliedsstaaten. Hier in meinem Heimatort habe ich ein Bürgerbüro, da kann ich dann auch immer hin und etwas ausdrucken und so weiter. Das war jetzt nicht so dramatisch von den Einschnitten, aber wir haben zum Beispiel einen Todesfall im Staff gehabt, ein Mitarbeiter, der an Covid gestorben ist.
Es ging nicht so Knall auf Fall würde ich sagen, sondern nach und nach. Erst einmal wurde gebeten zu reduzieren und dann wurde den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen es sehr stark nahegelegt nicht mehr ins Büro zu kommen. Das wurde immer mehr bis hin zu virtuellen Plenarsitzungen.
HIMMELKLAR: Das wäre jetzt die nächste Frage: Selbst die Plenarsitzungen finden im Moment nicht im Plenarsaal in Brüssel statt, sondern das läuft alles digital gerade?
BARLEY: Doch es gibt noch eine analoge Plenarsitzung. Da sitzen dann sehr wenige Menschen. Es ist auch umstritten unter den Abgeordneten, ob es ratsam ist, dort hinzufahren. Ich gehöre zu denen die sagen: "Wenn wir unserer Bevölkerung sagen: Stay at home, bleibt Zuhause, dann sollten wir das auch tun." Aber es gibt so blöde Regelungen wie beispielsweise ein Tagegeld. Wenn man dort ist und sich in die Anwesenheitsliste einschreibt, dann bekommt man das Tagegeld ausgezahlt und das veranlasst dann natürlich manche doch hinzugehen.
Aber wenn man sich die Übertragungen anschaut, sind es sehr wenige, die tatsächlich anwesend sind. Man kann nur reden, wenn man tatsächlich anwesend ist. Die einzige Ausnahme wurde jetzt für zwei Fraktionsvorsitzende in der letzten Debatte gemacht, auch hoch umstritten alles. Und wir anderen verfolgen das von Zuhause aus, können aber keine mündlichen Beiträge liefern.
HIMMELKLAR: Wie läuft das zum Beispiel mit Abstimmungen?
BARLEY: Abstimmungen, das ist ein bisschen Skurril, weil gewährleistet sein muss, dass der oder die Abgeordnete persönlich diese Stimme abgibt. Wir waren einfach nicht darauf eingerichtet das mit Fingerabdruck oder digitaler Signatur, mit Verifizierung oder so zu machen. Deswegen bekommen wir E-Mails mit dem Stimmzettel, wir drucken sie aus, füllen sie aus und unterschreiben, dass wir das persönlich machen. Dann scannen wir sie ein und schicken sie wieder zurück.
HIMMELKLAR: Oh Gott. Und das funktioniert?
BARLEY: Das funktioniert hervorragend. Wir hatten bisher Teilnahmeraten, die weit über dem liegen, was man an normalen Präsenzplenartagen hat.
HIMMELKLAR: Wann waren Sie zuletzt in Brüssel?
BARLEY: Ja, vor sieben Wochen. So lange bin ich nicht mehr dort gewesen.
HIMMELKLAR: Das heißt, Sie wissen auch gar nicht, wie es da jetzt aussieht?
BARLEY: Nein. Also mein Exmann lebt dort und mein jüngerer Sohn zeitweise auch. Deswegen habe ich nach wie vor Einblick. Natürlich erzählen meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viel. Da sind die Maßnahmen schon noch einmal strenger als bei uns.
HIMMELKLAR: Wir haben im Podcast auch schon auf die Arbeit vom Bundestag geschaut. Haben Sie einen Einblick inwiefern sich das vergleicht bei denen und bei Ihnen in Brüssel im Moment?
BARLEY: Es ist schon sehr unterschiedlich, weil wir natürlich noch einmal andere Herausforderungen zu bewältigen haben. Wir haben 27 Mitgliedsstaaten, die sehr unterschiedliche Maßnahmen getroffen haben und wir haben Mitglieder des Parlaments, die wirklich ihr Heimatland nicht verlassen können, anders als hier. Innerhalb Deutschlands kann man ja fahren.
Es gibt einige Orte, wo man nicht rein und raus darf, aber sonst kann man sich ja innerhalb Deutschlands weitestgehend frei bewegen. Jedenfalls nach Berlin kommt man. Bei uns sind es manche Länder, die das rechtlich nicht erlauben, es gibt auch manche, wo es faktisch nicht geht, weil einfach keine Flüge mehr gehen und man drei Tage unterwegs wäre bis man in Brüssel überhaupt ankommt. Also das ist bei uns noch einmal komplizierter als in Berlin.
HIMMELKLAR: Wie ist das so in der Fraktionsarbeit? Ist das auch nochmal komplizierter geworden, die internationale Abstimmung?
BARLEY: Ja, dadurch, dass wir eben Übersetzungen brauchen. Wenn wir Videokonferenzen in der Fraktion machen, dann müssen wir auch Übersetzungen anbieten, beziehungsweise wir versuchen es dann auch ohne. Aber wir haben tatsächlich auch vereinzelt Mitglieder, die kein Englisch sprechen und für die ist das sehr sehr schwierig dann zu folgen. Das gibt dann auch ein demokratietheoretisches Problem, denn Demokratie lebt davon, dass alle gewählten Mitglieder gleich partizipieren können an der Willensbildung.
HIMMELKLAR: Und dann wird in der Videokonferenz einfach noch ein Übersetzer dazu geschaltet oder wie machen Sie das?
BARLEY: Wir hatten jetzt eben gerade, bevor wir uns zusammengeschaltet haben, eine Vorbereitungssitzung für das Präsidium des Europäischen Parlaments, wo wir sozialdemokratischen Abgeordneten uns zusammenschalten und wir haben einen dabei, der Italiener ist und tatsächlich sehr schlecht Englisch spricht und da wurde dann eine Übersetzerin zwischengeschaltet.
HIMMELKLAR: Sie haben es gesagt: Die unterschiedlichen Länder haben verschiedene Maßnahmen, da wird das Thema aber auch unterschiedlich behandelt. Die Maßnahmen bei uns sehen ganz anders aus als in Ungarn, in Italien oder Spanien. Ich könnte mir vorstellen, dass es auch inhaltlich zu Konflikten kommt. Nehmen einige das vielleicht ernster als andere?
BARLEY: Absolut. Also wir diskutieren jetzt im Moment Maßnahmen, die wir ergreifen wollen, wenn wir denn dann langsam wieder in Normalbetrieb übergehen oder wenn wir wieder zumindest die Plenarsitzungen wieder stärker öffnen. Und da geht es beispielsweise um die Maskenpflicht oder um Temperaturmessungen. Und da haben eben die unterschiedlichen Abgeordneten aus ihren Heimatstaaten sehr unterschiedliche Erfahrungen und dementsprechend auch Meinungen.
Gerade in Osteuropa sind viele der Meinung, dass die frühzeitige Maskenpflicht bei ihnen eine stärkere Ausbreitung verhindert hat und plädieren deswegen ganz vehement dafür. Während andere da zurückhaltender sind. Bei den Temperaturmessungen ist das ähnlich.
HIMMELKLAR: Wie wird so etwas dann tatsächlich beschlossen, wenn das dann eingeführt werden wird?
BARLEY: Da gibt es dann die jeweils zuständigen Gremien. Manche dieser Entscheidungen werden bei uns im Präsidium getroffen und da wird dann, wie das üblich ist, eine Meinung gebildet und am Ende, wenn es unterschiedliche Meinungen gibt auch abgestimmt.
HIMMELKLAR: Das heißt, da gibt es dann im Präsidium eine Mehrheitsabstimmung oder muss da das ganze Parlament entscheiden?
BARLEY: Bei diesen Fragen gibt es das Präsidium und es gibt noch den Geschäftsordnungsausschuss, der ist in manchen Fragen auch noch gefragt. Aber in dieser Frage ist das Präsidium tatsächlich gefragt. Bei uns ist es allerdings so, dass auch die Fraktionen immer eingebunden werden in die Willensbildung. Das sind am Ende nicht die, die entscheiden, aber da wird es auch immer diskutiert.
HIMMELKLAR: Wie sieht es eigentlich aus mit den anderen Themen mit denen sich das Parlament sonst befasst? Also wir haben ja Brexit eigentlich als riesiges Thema in den letzten Monaten gehabt. Spielt das im Moment überhaupt noch eine Rolle?
BARLEY: Ja, der Brexit spielt schon eine Rolle, wobei die Verhandlungen ja zwischen der Kommission und dem Vereinigten Königreich ablaufen. Also wir werden da konsultiert, wir müssen am Ende ja auch zustimmen, aber dafür gibt es ein Gremium was da eingebunden ist. Ansonsten, diese Abstimmungsprozedur, die ich eben beschrieben habe, die macht es natürlich schwer bis unmöglich beispielsweise Änderungsanträge zu diskutieren.
Und deswegen sind wir bei den Plenarsitzungen und den Abstimmungen schon darauf beschränkt Dinge abzustimmen, die einen großen Konsens im Parlament haben. Das war beispielsweise jetzt so bei den Zustimmungen zu den Maßnahmen, die die Kommission getroffen hat gegen Covid 19. Auch bei den finanziellen Erleichterungen für die besonders betroffenen Staaten und so weiter. Aber eine Debatte ist schwierig. Man arbeitet natürlich weiter an den Dossiers, an den einzelnen Gesetzesvorhaben im kleineren Kreis, aber die Diskussionen und Abstimmungen in den Ausschüssen beispielsweise sind sehr komplex.
HIMMELKLAR: Frau Barley, Sie haben es eben schon so ein bisschen angedeutet. Das bringt ja auch ein Problem mit für das Demokratieverständnis, nicht wahr?
BARLEY: Genau, unter vielerlei Gesichtspunkten. Also es wird zum Beispiel auch immer wieder diskutiert, wer kann eigentlich überhaupt in Brüssel sein und sich dort zu Wort melden? Da sind dann manche Landsmannschaften, Ländergruppen ganz ausgeschlossen. Das ist wirklich ein Problem. Dann: Wer kann sich melden in einer Ausschusssitzung, die sich durch die Konsekutivübersetzung dann teilweise auch nochmal länger hinzieht?
Auch durch die technischen Fragen, Sie kennen das alle aus Ihren Konferenzen. Bin ich zu hören? Bin ich zu sehen? Ja, bitte sprechen Sie jetzt. Da geht ja immer schon die Hälfte der Redezeit fast flöten. Also es gibt eine viel geringere Beteiligung. Deshalb ist es eine Ausnahmesituation und es ist auch wichtig, dass es eine Ausnahmesituation bleibt. Es gibt manche Leute, die erwägen auch vielleicht in Richtung eines virtuellen Parlaments zu gehen in Europa. Aber das ist nicht praktikabel und auch der Demokratie nicht zuträglich.
HIMMELKLAR: Wenn Sie sich so die nächsten Wochen und Monate vorstellen. Es ist schwierig da jetzt zu spekulieren. Aber was denken Sie, wie wird es weitergehen?
BARLEY: Natürlich ist es bei uns wie überall auch. Diese Maßnahmen halten wir nur so lange aufrecht, wie es wirklich nötig ist. Wie lange das nötig ist, kann auch bei uns niemand absehen. Wir versuchen den Betrieb insofern wieder ans Laufen zu bekommen, dass wir sagen: Eine Person pro Büro möglicherweise, alle mit Mundschutz, viel Desinfektion natürlich, aber bis wir wieder im Normalbetrieb sind, das wird noch eine ganze Weile dauern, glaube ich.
HIMMELKLAR: Jetzt müssen Sie mir noch meine Abschlussfrage beantworten, die jeder gestellt bekommt. Was bringt Ihnen Hoffnung im Moment?
BARLEY: Mir bringt Hoffnung, dass diese Krise in vielem auch das Gute hervorbringt. Beispielsweise in den sogenannten Sozialen Netzwerken, die ja oft eher asoziale Netzwerke sind, hat man gerade am Anfang gesehen, dass da ganz viel Solidarität, Vernetzung und Unterstützung sich bahnbrach.
Viele stellen sich jetzt die Frage: Was ist wirklich wichtig im Leben? Diese Frage stellen wir uns viel zu selten. Wenn wir daraus dann auch Konsequenzen ziehen, was wir jetzt für wichtig erachten, dann kann die Welt auch eine bessere werden nach der Krise.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.
Hinweis:
Das Interview ist Teil des Podcasts Himmelklar – ein überdiözesanes Podcast-Projekt koordiniert von der MD GmbH in Zusammenarbeit mit katholisch.de und DOMRADIO.DE. Unterstützt vom Katholischen Medienhaus in Bonn und der APG mbH. Moderiert von Renardo Schlegelmilch.