Es gibt eine Geschichte von zwei Geschwistern, die mir schon lange richtig gut gefällt. Benedikt von Nursia, der große Vater des abendländischen Mönchtums, hat eine geniale, wunderbar ausgewogene Ordensregel geschrieben: "Ora et labora". Das ausgewogene Verhältnis von Gebet und Tätigkeit, von Stille und Gemeinschaft ist so klug geschrieben, dass diese Regel Hunderttausende Mönche in der ganzen Welt über eineinhalb Jahrtausende bis heute sehr gut leben und beten und wirken lässt.
Den Benediktinern verdanken wir die Kultivierung Europas in vielerlei Hinsicht. Eine Regel in dieser Ordnung besagt, dass es nur unter außergewöhnlichen Umständen erlaubt ist, außerhalb des Klosters zu übernachten. Immer am Abend sollen alle Brüder zurück sein. Und dann gibt es seine Schwester Scholastika, die wahrscheinlich durch das Vorbild des Bruders Nonne geworden ist und in ihrem Kloster in der Nähe lebt. Gelegentlich besucht Benedikt seine Schwester und sie reden über Gott und das Leben in seiner Nachfolge. Eines Abends als Scholastika ahnt, dass ihre Lebenszeit zu Ende geht, will sie ihren Bruder überzeugen, dass er noch bei ihr bleibt und sie weiter miteinander reden und meditieren können. Aber Benedikt weist das entrüstet zurück, weil er niemals die Ordensregel brechen wird. Scholastika faltet still die Hände und bittet Gott kurz um seine Hilfe. Ein mordsmäßiges Gewitter bricht herauf und niemand kann auch nur einen Fuß vor die Tür setzen. "Was hast du gemacht?" klagt Benedikt zunächst, weil er schon ahnt, dass seine Schwester das erbeten hat. Aber er bleibt bei ihr. Und sie reden die ganze Nacht. Und sie spüren beide, dass Gott ganz nahe ist und sie durch ihr Leben trägt.
Ein paar Tage später stirbt Scholastika und Benedikt sieht ihre Seele zu Gott gehen. Sie konnte bei Gott viel erreichen, weil sie die größere Liebe hatte. Regeln einhalten ist gut und notwendig, damit das Gemeinwohl lebendig und funktionstüchtig bleibt. Aber wichtiger für das gesamte Leben ist immer die Liebe.