Ein einbeiniger Mann liegt im Dreck. Mit dem Rücken unbequem gegen einen Zaun gelehnt, stützt er sich mühsam auf einen Ellbogen.
Es ist ein Bild übergroßen Jammers, das ich im Osterbrief von meiner Freundin Sr. Karoline Mayer finde. Seit über vierzig Jahren teilt Sr. Karoline das Leben von Menschen in den Armenvierteln Chiles, in Peru und in den Hochebenen von Bolivien.
Dieses Bild ist in Bolivien entstanden und zeigt Ramon. Sein Gesicht ist so ausgemergelt, als würde schon der Tod ihn zeichnen.
Ein Mann hat im Büro von Sr. Karolines bolivianischer Niederlassung für Ramon vorgesprochen. Sein Freund brauche Hilfe. Er läge verlassen auf der Straße und habe seinen Ausweis verloren.
Der für Ramon sprechende Freund sagt, er habe gehört, dass Sr. Karoline und ihre Freund:innen Menschen auf der Straße helfen. Ob sie wohl auch Ramon helfen?
Natürlich tun sie das.
Als Mitarbeiterinnen von Sr. Karoline Ramon in den Straßen von Puriskiris in Bolivien finden, sehen sie nacktes Elend. Ramon hat nicht nur seinen Ausweis verloren.
Sondern lebt mit seinem, einem Bein schon lange auf der Straße. Für alle seine Bedürfnisse braucht er die Hilfe von Passanten. Diese aber sind von den offenen Geschwüren am verbleibenden Bein oft abgestoßen.
Ein Sozialarbeiter und zwei Krankenschwestern waschen und pflegen Ramon.
Auf der Straße.
Sr. Karolines Arbeit ist in Stiftungen organisiert. In allen drei Latein-amerikanischen Ländern arbeiten Hunderte Freiwillige mit, geben den Menschen auf den Straßen, in den Gefängnissen, in Kindergärten und Schulen, in Krankenstationen und Werkstätten, alles, was sie können.
Oft bekommen die Menschen ein neues Leben. Noch öfter teilen diese Menschen, sobald sie sich ein bisschen erholt haben, ihr neues Glück mit Brüdern und Schwestern in noch größerem Elend.
Die Menschen in den Armenvierteln von Chile wollten, dass ihre Stiftung: Cristo Vive, also Christus lebt, heißt. Sr. Karoline war skeptisch. Sie wollte niemandem mit einem Stiftungsnamen verschrecken, den vielleicht nur katholisch sehr Gebildete verstehen.
Die Menschen bestanden auf dem Namen. Darum gehe es doch in der Arbeit: um ein neues Leben.
Im Osterbrief von Sr. Karoline gibt es noch ein letztes Bild von Ramon. Frisch rasiert und gepflegt, in Stoffhose, hellem Hemd und blauem Pullover sitzt Ramon kerzengerade auf einem Stuhl.
Direkt und offen schaut er in die Kamera.
Aus dem geschwürüberzogenen Elend im Straßendreck ist ein Mensch geworden.
Eine echte Ostergeschichte. Wie wunderbar, oder, besser, Halleluja.