Unter dem Titel "Er hat uns geliebt" hat Papst Franziskus am Donnerstag sein viertes päpstliches Lehrschreiben veröffentlicht. In dem Text, der in Kirchenkreisen als "geistliches Testament" des 87-Jährigen bezeichnet wird, erklärt der Papst, aus welchen Quellen er seinen Glauben und sein Engagement für eine solidarische Welt schöpft. Ein Auszug aus den wichtigsten Textpassagen in der deutschen Übersetzung des Vatikans:
9. In dieser flüssigen Welt ist es notwendig, wieder vom Herzen zu sprechen, als dem Ort, wo in jedem Menschen, gleich welcher Herkunft und Lebensbedingung, alles zusammenkommt, wo all die anderen Kräfte, Überzeugungen, Leidenschaften und Entscheidungen der konkreten Menschen entspringen und verwurzelt sind. Aber wir bewegen uns in Gesellschaft von Serienkonsumenten, die in den Tag hineinleben und von den Rhythmen und dem Lärm der Technologie beherrscht werden, ohne viel Geduld für die Prozesse, die die Innerlichkeit erfordert. In der heutigen Gesellschaft läuft der Mensch "Gefahr, den Mittelpunkt, seine eigene Mitte zu verlieren" (...) Es fehlt das Herz.
17. (...) Das Anti-Herz ist eine Gesellschaft, die zunehmend von Narzissmus und Selbstbezogenheit beherrscht wird. Schließlich kommt es zum "Verlust der Sehnsucht", weil der andere aus dem Blickfeld gerät und wir uns in uns selbst verschließen, ohne die Fähigkeit zu gesunden Beziehungen. Infolgedessen werden wir unfähig, Gott anzunehmen.(...)
31. (...) Vor dem Herzen Christi bitte ich den Herrn, noch einmal Erbarmen zu haben mit dieser verwundeten Erde, die er als einer von uns bewohnen wollte. Möge er die Schätze seines Lichts und seiner Liebe ausschütten, damit unsere Welt, die inmitten von Kriegen, sozioökonomischen Ungleichgewichten, Konsumismus und dem menschenfeindlichen Einsatz von Technologie überlebt, das Wichtigste und Nötigste wiederfindet: das Herz.
46. All dies mag bei oberflächlicher Betrachtung als religiöser Romantizismus erscheinen. Es geht jedoch um etwas äußerst Ernstes und Entscheidendes, das seinen höchsten Ausdruck in dem an ein Kreuz genagelten Christus findet. Dies ist das vielsagendste Wort der Liebe. Es ist keine leere Hülle, es ist kein reines Gefühl, es ist keine spirituelle Flucht. Es ist Liebe. (...)
48. Die Verehrung des Herzens Christi ist nicht ein von der Person Jesu losgelöster Kult um ein Organ. Das, was wir betrachten und anbeten, ist der ganze Jesus Christus, der Mensch gewordene Sohn Gottes, dargestellt in einem Bild, das sein Herz besonders betont. In diesem Fall wird das fleischliche Herz als Bild oder bevorzugtes Zeichen der innersten Mitte des menschgewordenen Sohnes und seiner sowohl göttlichen als auch menschlichen Liebe betrachtet (...)
88. Ich möchte hinzufügen, dass das Herz Christi uns gleichzeitig von einem anderen Dualismus befreit: dem der Gemeinschaften und Hirten, die sich nur auf äußere Aktivitäten konzentrieren, auf strukturelle Reformen, die nichts mit dem Evangelium zu tun haben, auf zwanghaftes Organisieren, auf weltliche Projekte, auf säkularisiertes Denken, auf verschiedene Vorschläge, die als Erfordernisse dargestellt werden und die man bisweilen allen aufdrängen will. Das Ergebnis ist oft ein Christentum, das die Zartheit des Glaubens, die Freude hingebungsvollen Dienstes, den Eifer für die Mission von Mensch zu Mensch, das Überwältigtsein von der Schönheit Christi, die emotionale Dankbarkeit für die Freundschaft, die er anbietet, und den letzten Sinn, den er dem persönlichen Leben gibt, vergessen hat. (...)
205. Das christliche Lebensmodell ist attraktiv, wenn es ganzheitlich gelebt und zum Ausdruck gebracht werden kann: nicht als bloße Zuflucht in religiöse Empfindungen oder in prunkvolle Rituale. Was wäre das für ein Dienst an Christus, wenn wir uns mit einer individuellen Beziehung begnügen würden, ohne Interesse daran, den anderen zu helfen, so dass sie weniger leiden und besser leben? (...)
209. Die Mission, verstanden als ein Ausstrahlen der Liebe des Herzens Christi, erfordert liebende Missionare, die sich immer noch von Christus einnehmen lassen und die nicht anders können, als diese Liebe weiterzugeben, die ihr Leben verändert hat. Daher schmerzt es sie, Zeit mit Diskussionen über zweitrangige Themen zu verlieren oder damit, Wahrheiten und Regeln aufzuerlegen, denn ihr Hauptanliegen ist es, das weiterzugeben, was sie erleben (...)
217. Die Aussagen dieses Dokumentes lassen uns entdecken, dass das, was in den Sozialenzykliken Laudato si' und Fratelli tutti geschrieben steht, unserer Begegnung mit der Liebe Jesu Christi nicht fremd ist. Denn, wenn wir aus dieser Liebe schöpfen, werden wir fähig, geschwisterliche Bande zu knüpfen, die Würde jedes Menschen anzuerkennen und zusammen für unser gemeinsames Haus Sorge zu tragen.
218. Heute ist alles käuflich und bezahlbar, und es scheint, dass Sinn und Würde von Dingen abhängen, die man durch die Macht des Geldes erwirbt. Wir werden getrieben, nur anzuhäufen, zu konsumieren und uns abzulenken, gefangen in einem entwürdigenden System, das uns nicht erlaubt, über unsere unmittelbaren und armseligen Bedürfnisse hinauszusehen. Die Liebe Christi steht außerhalb dieses abartigen Räderwerks, und er allein kann uns von diesem Fieber befreien, in dem es keinen Platz mehr für eine bedingungslose Liebe gibt. Er ist in der Lage, dieser Erde ein Herz zu verleihen und die Liebe neu zu beleben, wo wir meinen, die Fähigkeit zu lieben sei für immer tot.
219. Das hat auch die Kirche nötig, damit nicht an die Stelle der Liebe Christi vergängliche Strukturen, Zwangsvorstellungen vergangener Zeiten, Anbetung der eigenen Gesinnung oder Fanatismus aller Art treten (...) Nur seine Liebe wird eine neue Menschheit ermöglichen.
220. Ich bete zu Jesus, dem Herrn, dass aus seinem heiligsten Herzen für uns alle Ströme lebendigen Wassers fließen, um die Wunden zu heilen, die wir selbst uns zufügen, um unsere Fähigkeit zur Liebe und zum Dienen zu stärken, um uns anzutreiben, zu lernen, gemeinsam auf eine gerechte, solidarische und geschwisterliche Welt hinzuarbeiten. (...)
(KNA/24.10.2024)