Die Kinderschutzkommission des Landtags hat ein heikles Thema auf der Agenda: "Gewalt im kirchlichen Raum". Dahinter verbirgt sich Erschütterndes. Die geladenen Sachverständigen nehmen kein Blatt vor der Mund.
Trotz der bisherigen Anstrengungen zur Aufarbeitung von Gewalt und Missbrauch im kirchlichen Bereich sehen Experten noch viel Handlungsbedarf - auch beim Gesetzgeber. Das geht aus zahlreichen vorab veröffentlichten Stellungnahmen für eine Sachverständigen-Anhörung im Düsseldorfer Landtag hervor. Dort beschäftigt sich die Kinderschutzkommission am Donnerstag mit dem Thema: "Gewalt im kirchlichen Raum".
Mit viel Selbstkritik gegenüber der eigenen Institution und teils drastischen Beispielen schildern die Vertreter der katholischen und der evangelischen Kirche, Wissenschaftler sowie Beauftragte, die aus Gesprächen mit Opfern Einblicke haben, das Problemfeld: Was sind typische Risiko-Faktoren? Was begünstigt Missbrauch im kirchlichen Kontext? Welche offenen Baustellen gibt es?
Vertuschung und Versetzung
Das Fazit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zum aktuellen Stand in den beiden großen Kirchen fällt zunächst ernüchternd aus: Lange habe Schadensbegrenzung im Mittelpunkt gestanden, "die sehr häufig zu Vertuschung und der Versetzungsstrategie von Tätern" geführt habe. Opfer seien "kirchenrechtlich-bürokratisch administriert", meist zur Geheimhaltung verpflichtet und in der Regel sehr bescheiden entschädigt worden - wenn überhaupt.
Auf Bundesebene werde inzwischen eine gesetzliche Verankerung der Aufarbeitungsstrukturen vorbereitet, lobt die Kommission. Auch NRW brauche aber ein Landesgesetz zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und zur konsequenten Entwicklung von Schutzkonzepten und Präventionsmaßnahmen.
Auch andere Experten betonen in ihren Stellungnahmen die gesamtgesellschaftliche Herausforderung und den staatlichen Handlungsbedarf über die eigenen Aufklärungsaktivitäten der Kirchen hinaus. Die Katholische Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW fordert, Missbrauch im Rahmen eines Seelsorgeverhältnisses ausdrücklich im Strafgesetzbuch zu verankern.
Handlungsbedarf gebe es aber bei weitem nicht allein im kirchlichen Raum, unterstreichen mehrere Sachverständige. Auch andere Bereiche wie der Sport, Schulen und die öffentliche Verwaltung müssten ihre
Verantwortung anerkennen und angemessene Schutzkonzepte entwickeln und umsetzen, fordert der Interventionsbeauftragte im Bistum Essen, Simon Friede. Vor allem im Sport sei der Schutz von Kindern und Jugendlichen dringend zu verbessern. Hier sei bislang «die Beteiligung und Sensibilität auffallend gering».
Klima der Übergriffigkeit
Im kirchlichen Bereich fänden sich in Studien auch Hinweise, wie sich Gewalt, die von Erwachsenen an Schutzbefohlenen verübt werde, auf Jugendliche übertrage, berichtet die Leiterin der Diakonischen Fachstelle «Aktiv gegen sexualisierte Gewalt», Marlene Kowalski. "Das bedeutet auch, dass sich ein Klima der Entgrenzung, Übergriffigkeit und Sexualisierung auf die Handlungsweisen zwischen Jugendlichen überträgt."
Beispielhaft für das Wegschauen in Strukturen, in denen es «eine Kultur der sexualisierten Nähe und Übergriffigkeit» gegeben habe, seien etwa Pfadfinder im jesuitischen Aloisius-Kolleg Bonn oder beim Verband Christlicher Pfadfinder. Die Grenzüberschreitungen seien begünstigt worden durch die Nähe: gemeinsam ums Lagerfeuer sitzen, zelten, gemeinsam im Wald sein, in der Ferne übernachten. "Im Nachhinein haben Jugendliche, die zum Teil dann selbst betroffen waren, auch berichtet, dass sie erlebt haben, wie andere Jugendliche sexualisierte Gewalt erfahren haben, sie aber selbst nichts dagegen unternommen haben", schreibt die promovierte Erziehungswissenschaftlerin.
Verordnete Mittäterschaft bei Dusch-Ritualen
In Heimen oder Internaten sei auch eine Art "verordnete Mittäterschaft" beobachtet worden. Teilweise seien Kinder und Jugendliche dort von Erwachsenen ausdrücklich aufgefordert worden, Gleichaltrige zu drangsalieren. So habe kirchliches oder diakonisches Personal seine institutionelle Macht- und Autoritätsposition dazu genutzt, Erniedrigungen und Herabwürdigungen zu übertragen.
Betroffene hätten etwa von Dusch-Ritualen in katholischen Internaten berichtet, wo ein Junge in Anwesenheit eines Paters von älteren Jungen festgehalten und mit einem Gegenstand anal vergewaltigt worden sei. Die sei als "Aufnahme-Ritual" bezeichnet worden.
Das Tabu brechen
Das Evangelische Büro NRW forderte, "immer wieder das Tabu zu brechen" - jedem Verdacht müsse nachgegangen werden. Neben den bereits angestoßenen kirchlichen Gutachten zum Thema Missbrauch sei auch eine Dunkelfeld-Studie erforderlich.
Das Katholische Büro NRW verwies auf die 2018 veröffentlichte große Studie zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche. Im Ergebnis wurden darin 1670 beschuldigte Kleriker ausgemacht, denen nach den Personal- und Handakten insgesamt 3677 Kinder und Jugendliche als von sexuellem Missbrauch betroffen zugeordnet werden konnten. In der Folge hätten mehrere Bistümer Studien zu dem Thema vorgelegt und veröffentlicht.
"Bitchen und Sexting"
Asymmetrische Machtbeziehungen führten auch in kirchlichen Strukturen zu Formen von psychischer Gewalt, räumte das Katholische Büro ein. Häufige Formen seien Drohungen, Nötigungen und Angstmachen. In der Seelsorge könne es zudem zu verbaler Gewalt wie Mobbing kommen.
Im Bereich der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen träten auch in kirchlichen Einrichtungen wie Schulen, Kitas, Jugendverbänden oder offenen Ganztagsangeboten psychische und physische Gewalt auf, heißt es in der Stellungnahme. Beispiele seien: "Schreien, Bitchen (zu deutsch etwa: Anzicken), Schlagen, Kneifen, in die Brust fassen, Genitalien berühren, Schütteln". Auch Sexting, Cyber-Grooming und andere Formen digitaler Übergriffe kämen vor. Die katholische Kirche werde alles dazu beitragen, in ihrem Bereich umfassend und transparent aufzuklären. (dpa/08.08.23)