Auge um Auge, Zahn um Zahn - das ist die Grundlage des archaischen Rachegedankens im Kanun. Der vom griechischen "Kanon" abgeleitete Begriff bezeichnet ein mündlich überliefertes Gewohnheitsrecht in Albanien, das zahlreiche Bereiche des Lebens regelt und ritualisiert. Anwendung findet es vor allem unter Angehörigen der katholischen Minderheit in dem muslimisch dominierten Balkanstaat. Die Ursprünge des Kanun sollen bis in vorrömische Zeit zurückreichen.
Die bekannteste Gesetzessammlung ist nach einem Herrscher des 15. Jahrhunderts namens Leke Dukagjini benannt und wurde erstmals Ende des 19. Jahrhunderts von einem Franziskanerpater verschriftlicht. Die Vorschriften drehen sich vor allem um die Ehre der Familie. Je nach Region, Sippe und Clan fallen sie unterschiedlich aus. Nach einem Mord an einem Familienmitglied muss dem Kanun zufolge die Ehre wiederhergestellt werden, indem ein Mitglied aus der Sippe des Mörders getötet wird. Über Jahre und Jahrzehnte entsteht so oft ein Kreislauf der Gewalt.
Kirche will Tradition brechen
Die katholische Kirche Albaniens versucht, die Tradition zu brechen, die sowohl die Osmanische Herrschaft als auch die Zeit des Kommunismus überdauert hat. Mehrere Bischöfe erklärten im Jahr 2012 per Dekret: "Jeder, der einen Mord begeht oder sich absichtlich der Beihilfe dazu schuldig macht, wird mit der Exkommunikation nach Artikel 1331 des Kanonischen Rechts bestraft." Die Exkommunizierten dürfen nicht an der Heiligen Messe teilnehmen, keine Sakramente empfangen und kein christliches Begräbnis erhalten.
Priester sind wichtige Vermittler zwischen verfeindeten Familien. Gelingt eine Versöhnung, legt der Geistliche sein Kruzifix mit der Christusfigur nach unten auf den Tisch. Indem das Familienoberhaupt das Kreuz umdreht, wird der Friede besiegelt. (KNA)