Der Vatikan hat am 17. Mai 2024 neue kirchliche Normen für die Bewertung übernatürlicher Phänomene veröffentlicht. Dabei geht es vor allem um behauptete Marienerscheinungen und andere vermutete Manifestationen göttlichen Wirkens in der Welt. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert in Auszügen das Begleitschreiben des Leiters der vatikanischen Glaubensbehörde, Kardinal Victor Fernandez. In diesem Text erklärt er Gründe und Inhalte der neuen Normen.
"Gott ist gegenwärtig und handelt in unserer Geschichte. Der Heilige Geist, der dem Herzen des auferstandenen Christus entspringt, wirkt in der Kirche mit göttlicher Freiheit (...). Dieses Wirken des Heiligen Geistes schließt auch die Möglichkeit ein, unsere Herzen durch bestimmte übernatürliche Ereignisse zu erreichen, wie Erscheinungen oder Visionen von Christus oder der Heiligen Jungfrau und andere Phänomene. Oft haben diese Ereignisse einen großen Reichtum an geistlichen Früchten, an Wachstum im Glauben, an Frömmigkeit und Geschwisterlichkeit und Dienstbereitschaft hervorgebracht, und in einigen Fällen sind dadurch verschiedene Wallfahrtsorte über die ganze Welt verstreut entstanden, die heute zu einem Kernteil der Volksfrömmigkeit vieler Völker geworden sind. (...)
Aus diesem Grund sind die Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene, die wir jetzt vorstellen, nicht unbedingt als Kontrolle gedacht und noch weniger als Versuch, den Geist auszulöschen. In den positivsten Fällen von Ereignissen mutmaßlichen übernatürlichen Ursprungs wird nämlich "der Diözesanbischof ermutigt, den pastoralen Wert dieses spirituellen Angebots zu schätzen und auch dessen Verbreitung zu fördern".
(...) Gleichzeitig muss anerkannt werden, dass in einigen Fällen von Ereignissen, die mutmaßlichen übernatürlichen Ursprungs sind, sehr ernste Probleme zum Schaden der Gläubigen auftreten, und in diesen Fällen muss die Kirche mit all ihrer pastoralen Fürsorge handeln. Ich beziehe mich zum Beispiel auf den Gebrauch solcher Phänomene zur Erlangung von "Profit, Macht, Ruhm, sozialer Berühmtheit, persönlichen Interessen" (...), was sogar so weit gehen kann, dass die Möglichkeit besteht, schwerwiegende unmoralische Handlungen zu begehen (...) oder sogar "als Mittel oder Vorwand, um Menschen zu beherrschen oder Missbrauch zu begehen" (...).
Man darf auch nicht außer Acht lassen, dass es bei solchen Ereignissen zu Irrtümern in der Glaubenslehre, zu einer unangemessenen Verkürzung der Botschaft des Evangeliums, zur Verbreitung eines sektiererischen Geistes usw. kommen kann. Schließlich besteht auch die Möglichkeit, dass die Gläubigen in den Bann eines einer göttlichen Initiative zugeschrieben Ereignisses geraten, das aber lediglich Frucht der Fantasie, des Strebens nach etwas Neuem, der Mythomanie oder der Neigung zur Verfälschung ist. Die Kirche braucht daher für ihre Unterscheidung in diesem Bereich klare Verfahren. (...)
Die bis heute gültigen Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher Erscheinungen und Offenbarungen wurden 1978(...) verabschiedet und erst 33 Jahre später, im Jahr 2011, offiziell veröffentlicht. (...) Beim Anwenden der Normen von 1978 wurde jedoch festgestellt, dass die Entscheidungen sehr lange dauerten, sogar mehrere Jahrzehnte, und dass auf diese Weise die notwendige kirchliche Unterscheidung zu spät kam.
Die oben genannten Elemente haben uns dazu veranlasst, mit den neuen Normen ein anderes (...) Verfahren (...) vorzuschlagen, und zwar mit sechs möglichen (...) Schlussfolgerungen (...) Diese (...) beinhalten normalerweise keine Erklärung über die Übernatürlichkeit des zu beurteilenden Phänomens, d. h. die Möglichkeit, mit moralischer Gewissheit zu bejahen, dass dies auf eine Entscheidung Gottes zurückgeht, der es direkt gewollt hat. Stattdessen bedeutet die Gewährung eines Nihil obstat lediglich, wie Papst Benedikt XVI. bereits erläuterte, dass es Gläubigen in Bezug auf dieses Phänomen "gestattet [ist], ih[m] in kluger Weise ihre Zustimmung zu schenken". (...)
Das (...) Verfahren mit dem Vorschlag von sechs möglichen prudenziellen Entscheidungen ermöglicht es, innerhalb einer zumutbareren Zeit zu einer Entscheidung zu gelangen, die dem Bischof hilft, die Situation in Bezug auf Ereignisse mutmaßlich übernatürlichen Ursprungs zu steuern, bevor sie sehr problematische Ausmaße annehmen. (...)
Dennoch bleibt die Möglichkeit bestehen, dass der Heilige Vater auf einem ganz außerordentlichen Weg eingreift, indem er ein Verfahren für eine eventuelle Erklärung der Übernatürlichkeit der Ereignisse genehmigt: Dies ist in der Tat eine Ausnahme, die in den letzten Jahrhunderten nur in sehr wenigen Fällen vorgekommen ist.
Andererseits bleibt (...) die Möglichkeit einer Erklärung der "Nicht-Übernatürlichkeit" nur dann bestehen, wenn objektive Anzeichen auftauchen, die eindeutig auf eine Manipulation hinweisen, die dem Phänomen zugrunde liegt. (...)
Es ist wichtig zu verstehen, dass die neuen Normen die Zuständigkeit des Dikasteriums schwarz auf weiß bestimmen. Einerseits bleibt es dabei, dass die Unterscheidung die Aufgabe des Diözesanbischofs ist. Andererseits, in Anbetracht der Tatsache, dass diese Phänomene heute mehr denn je viele Menschen betreffen, die anderen Diözesen angehören, und sich schnell in verschiedenen Regionen und Ländern ausbreiten, legen die neuen Normen fest, dass das Dikasterium konsultiert werden und immer eingreifen muss, um die endgültige Zustimmung zu den Entscheidungen des Bischofs zu geben, bevor dieser eine Entscheidung über ein Ereignis mutmaßlichen übernatürlichen Ursprungs veröffentlicht. (...) Bei der Bekanntgabe der Entscheidungheißt es dann: "in Einvernehmen mit dem Dikasterium für die Glaubenslehre".
(...) Die neuen Normen (sehen) auch vor, dass das Dikasterium in bestimmten Fällen motu proprio eingreifen kann. Tatsächlich sehen die neuen Normen vor, dass nach der klaren Entscheidung "das Dikasterium [...] sich in jedem Fall das Recht vor[behält], je nach Entwicklung des Phänomens erneut zu intervenieren". (...) (Quelle: KNA/ 17.05.2024)