Nur eine Minderheit benennt einen konkreten Anlass für den Kirchenaustritt (24 % vormals Evangelische, 37 % vormals Katholische). Dabei zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang mit dem Alter: Jüngere Befragte veranschlagen konkrete Anlässe seltener als Ältere, und sie geben häufiger an, diesen Schritt schon länger entschieden zu haben, fast ein Fünftel unter ihnen nutzt eine sich ergebende "gute Gelegenheit".
Unter den konkreten Anlässen stehen die kirchlichen Skandale zur sexualisierten Gewalt an Kindern ("Kindesmissbrauch") und die Verschwendung finanzieller Mittel an vorderster Stelle; bei den vormals Katholischen zählt auch die Ablehnung von Homosexuellen dazu. Zugleich lässt sich an der überaus hohen Zahl ihrer Nennungen – bis zu vier Fünftel derjenigen, die einen konkreten Anlass genannt haben – eine Aufgeregtheit über diese Skandale ablesen, die bei den vormals Evangelischen (max. zwei Fünftel) kaum zu erkennen ist. Unterstrichen wird dies dadurch, dass die Nennung von Skandalen bei den vormals Katholischen mit einer stärkeren kirchlichen Verbundenheit zur Zeit des Kirchenaustritts einhergeht, bei den vormals Evangelischen dienen Skandale den besonders 'Kirchenfernen' offenbar eher zur Untermauerung der Austrittsentscheidung.
"Versagen" der Institution
Es ist davon auszugehen, dass die Skandale zur Austrittsspitze 2019 beigetragen haben, insbesondere bei den vormals Katholischen. Es zeigt sich aber auch ein anhaltender Trend zu einem höheren Niveau der Kirchenaustritte, bezogen auf die Zahl der Kirchenmitglieder.
In einer weiteren Dimension sind Austrittsgründe miteinander verbunden, die sich als Versagen der Kirche kennzeichnen lassen, das sich sowohl auf ihren eigenen Anspruch als auch auf den Umgang mit den gesellschaftlichen Anforderungen bezieht. Bei dieser Kombination fallen die Zustimmungen bei den vormals Katholischen besonders hoch aus: die Unglaubwürdigkeit der Kirche (85 %), gefolgt von der mangelnden bzw. fehlenden Gleichstellung der Frauen sowie einer Ausrichtung an Werten, die an den Gegebenheiten in der modernen Gesellschaft vorbeiläuft.
Bei den konkreteren Fragen zur Einordnung der Kirchensteuer zeigt sich, dass finanzielle Ausgangspunkte sehr weit hinter generalisierenden Einschätzungen zurückstehen, in denen die Kirchensteuer als Zwangsabgabe bezeichnet oder die fehlende Transparenz der Mittelverwendung kritisiert wird. Mit 55 % (vormals Evangelische) bzw. 62 % (vormals Katholische) haben auch Kosten-Nutzen-Abwägungen einen hohen Stellenwert. Eine zeitweise Verminderung/Aussetzung der Kirchensteuer hätte ihren Austrittsentschluss jedoch kaum verhindern können.
Kosten-Nutzen-Abwägung
Bei den weiterreichenden Gründen für den Kirchenaustritt kristallisiert sich die persönliche Irrelevanz von (christlicher) Religion und Kirche als eine offenbar überdauernde Dimension heraus. Sie trifft bei vormals Evangelischen und Katholischen gleichermaßen auf deutlich überwiegende Zustimmung. In besonderer Klarheit ist in dieser Dimension bei den vormals Evangelischen auch die Ersparnis der Kirchensteuer angesiedelt, die mit 71 % zustimmenden Voten die Rangfolge der Gründe anführt. Damit bestätigt sich die geläufige Figur der „Kosten-Nutzen-Abwägungen“ zur Kirchenmitgliedschaft, die bei fehlender religiös-kirchlicher (Ein-)Bindung die Kirchensteuer als Kostenseite bewusst werden lässt und den Austritt wahrscheinlich(er) macht. Auch in diesem Zusammenhang erweist sich das Alter als wichtiger Faktor: Jüngere stimmen den Aussagen dieser Dimension wesentlich häufiger zu als Ältere.
Primäre Sozialisation
Die primäre Sozialisation erweist sich als wichtiger Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der persönlichen Beziehung zu Kirche und Glauben, insbesondere für die vormals Evangelischen, bei denen der zunehmende Bedeutungsverlust eines religiösen Selbstverständnisses über die Generationenfolge hinweg sichtbar wird. Zwar lässt sich dieser Trend bei den vormals Katholischen ebenfalls erkennen, doch scheint sich bei ihnen ein regelrechter Bruch vollzogen zu haben: Trotz religiöser Erziehung haben sie den Entschluss zum Kirchenaustritt umgesetzt und unterscheiden sich in ihrem aktuellen Selbstbild, in dem die Einstufung als kaum oder überhaupt nicht religiös dominiert, nur noch wenig von den vormals Evangelischen.
Durchführung
Bei der bundesweiten Repräsentativbefragung nahmen insgesamt 1.500 Personen, die aus der evangelischen oder katholischen Kirche ausgetreten sind, teil: 1.000 Befragte mit Austritt seit 2018 und 500 Befragte mit Austritt vor 2018. Die Erhebung wurde als repräsentative Online-Befragung im Rahmen des Panels forsa.omninet, das auf einer offline gewonnenen Zufallsstichprobe basiert, im Frühling 2021 von forsa durchgeführt.
Anlässe aus der qualitativen Vor-Untersuchung
Mit einer qualitativen Studie (Fokusgruppen) ging das Projekt eingangs der Frage nach, welche konkreten Anlässe die Ausgetretenen für die Beendigung ihrer Kirchenmitgliedschaft in dieser Zeit (und 2020) veranschlagen, um zu genaueren Klärungen dieser jüngsten Entwicklungen zu gelangen. Darüber hinaus wurde die Entwicklung der Beziehung zu Kirche und Glauben bzw. Religion dieser Ausgetretenen über verschiedene Lebensphasen hinweg als eigener Schwerpunkt behandelt, um die hinter den konkreten Anlässen liegenden Gründe für die Austrittsentscheidung zu betrachten. Ein zentrales Ergebnis ist, dass zwischen dem „Bruch“ mit der Kirche und dem tatsächlichen Austritt oft viele Jahre lagen – die Austrittsgründe beschreiben damit häufig nur den Auslöser und nicht den eigentlichen Bruch als solches.
In der qualitativen Untersuchung zeigt sich anhand der Schilderung von Ausgetretenen unter anderem Folgendes:
- Kaum religiöse Orientierung in der Familie
- Positive Berührungspunkte mit Kirche im Jugendalter, aber Bedeutungsverlust der Kirche beim Eintritt ins Erwachsenenalter
- Zunehmende Zweifel durch Verfehlungen der Kirche und mangelnde Differenzierung zwischen den Kirchen
- Zum Austritt führt oft eine passende Gelegenheit, weniger ein konkreter Anlass
- Austritt oft motiviert durch veränderte Sicht auf Kirche sowie neue Lebenssituation
- Bedeutung des Glaubens unabhängig von der Mitgliedschaft in der Kirche
- Kirchensteuer wurde erst zum Thema, als Zweifel über die Ausrichtung aufkam
Sozialwissenschaftliches Institut der EKD/03.2022