Feiern für Mutter Teresa - und Aufarbeiten der Massaker von Orissa

Zwei Gesichter Indiens

Mit zahlreichen Festveranstaltungen feiern Kirche und Staat in Indien seit Donnerstag den 100. Geburtstag von Mutter Teresa. Diesen Sonntag aber hat die katholische Bischofskonferenz Indiens zum "Nationalen Tag der indischen Märtyrer" erklärt. Gedacht wird der Gewalt gegen Christen vor zwei Jahren im indischen Bundesstaat Orissa. Zwei Gedenktage, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

Autor/in:
Michael Lenz
 (DR)

Von August bis Oktober 2008 wüteten hinduistische Nationalisten gegen Christen, brachten Menschen um, vergewaltigten Frauen, darunter eine Ordensfrau; sie brandschatzten Kirchen und vertrieben Zehntausende Christen aus ihren Dörfern. Ein selbsternanntes "Volkstribunal" unter der Leitung eines pensionierten Richters des Obersten Gerichtshofs hörte in dieser Woche in Neu Delhi Zeugen und Opfer der Gewalttaten und erinnerte an die bis zu 100 Ermordeten. Noch immer leben Tausende Christen in Notlagern, in denen es oft am Nötigsten fehlt. Nur wenige der Verantwortlichen für das Pogrom wurden bislang vor Gericht gestellt.

Immer wieder gibt es Meldungen über Gewalttaten und Unterdrückung von Christen, aber auch Muslimen und Buddhisten aus anderen Teilen Indiens. Joachim von Kölichen, evangelischer Pfarrer für die Deutschen in Nordindien, betont, es gebe zwar keine "systematische Gewalt" gegen Christen, jedoch Unruhe und auch Gewaltbereitschaft. Er vergleicht die Lage mit einem Topf Wasser auf dem Herd: "Die Oberfläche brodelt noch nicht, aber immer wieder mal steigt eine Blase nach oben."

Was die offene Gewalt angeht, so stimmt Pater Cosmon Arokiaraj seinem protestantischen Kollegen zu. Doch der Sekretär der bischöflichen Kommission für Dalit (Unberührbare) spricht von einer systematischen Unterdrückung der christlichen und muslimischen Dalit. Als Beleg führt er das Gesetz an, das zur sozialen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung der Dalit eine Art Quotensystem vorsieht. "Davon ausgenommen sind allerdings christliche und muslimische Dalit. Da kann man schon von einem System der Unterdrückung sprechen", meint er.

Katholiken sind kleine religiöse Minderheit im Milliarden-Land
Christen sind mit geschätzten rund 23 Millionen Mitgliedern eine kleine religiöse Minderheit im Milliarden-Land Indien. Die größte christliche Einzelkonfession ist der Katholizismus. Rund 13 Prozent der Inder gehören dem Islam an. Die Gewalt gegen Christen und andere religiöse Minderheiten geht zumeist von nationalistischen Hindu-Organisationen aus, denen die Bharatiya Janata Party (BJP) nahe steht. "Die BJP will ein hinduistisches Indien", sagt Cosmon Arokiaraj. "Sie wendet sich gegen alle anderen Religionen, auch den Buddhismus und Sikhismus, die sie nur als hinduistische Sekten ansehen."

Im Wahlkampf 2009 spielten religiöse Themen keine Rolle. "Die BJP heizt nur dann religiöse Ressentiments an, wenn es ihr zur Erreichung politischer Ziele sinnvoll erscheint", kritisiert Cosmon Arokiaraj. Denselben Vorwurf erhebt er auch gegenüber den Naxaliten, einem Netzwerk militanter maoistischer Gruppen, die in Orissa und anderen Teilen Westbengalens sowie im Norden Indiens über eine große Anhängerschaft unter den Dalits verfügt.

Dass sowohl die Naxaliten als auch der "Safran-Terror" der Hindu-Nationalisten nach jüngster Einschätzung der indischen Bundesregierung zu großen "innenpolitischen Sicherheitsrisiken" geworden seien, hätten sich die Regierungen verschiedener Couleur der vergangenen Jahrzehnte selbst zuzuschreiben, betont Cosmon Arokiaraj. Der Staat habe "total bei der Aufgabe versagt, Jobs, Schulen, Krankenhäuser, ordentliche Wohnverhältnisse für die Armen zu entwickeln".

Naxaliten wie die Hindu-Nationalisten, erläutert der Pater, seien Minderheiten. Doch im Zeitalter der Globalisierung, die viele in Indien - etwa 70 Prozent der 1,2 Milliarden leben unter ärmsten Bedingungen auf dem Land - als neue Unterdrückung erfahren, fielen Ideologien, die Identität, Gleichheit und Gerechtigkeit versprächen, auf zunehmend fruchtbaren Boden.

Die beiden Jahrestage dieser Woche haben die beiden Gesichter Indiens gezeigt. "Orissa steht für das Indien der Gewalt, der Kasten, der Dalit, der sozialen Ungerechtigkeit", sagt Cosmon Arokiaraj. "Mutter Teresa symbolisiert das Gesicht jener Inder aller Religionen, die für ein Land der Gleichheit stehen."