Auch nach 25 Jahren sind die Folgen von Tschernobyl nicht bewältigt

Strahlen-Nationalpark und ungezählte Opfer

Schutzkleidung muss schon seit Jahren niemand mehr überziehen, der den Kontrollposten zur Sperrzone von Tschernobyl passiert. Aber von Normalität kann in den von der Reaktorkatastrophe am härtesten getroffenen Regionen auch nach einem Vierteljahrhundert keine Rede sein.

 (DR)

Noch immer sind große Landstriche in Weißrussland, der Ukraine und in Russland so stark belastet, dass sie nicht bewohnbar sind. Und noch immer übersteigt einer aktuellen Greenpeace-Studie zufolge die Konzentration von radioaktivem Cäsium-137 in ukrainischer Milch bis zu 16-fach die zulässigen Höchstwerte für Kindernahrung. Die Regierungen in Kiew, Minsk und Moskau würden die Folgen des Unglücks am liebsten zu den Akten legen.



Dabei liegen in der Ruine des explodierten Reaktorblocks 4 vermutlich noch immer mehrere hundert Tonnen geschmolzener Kernbrennstäbe. Der sogenannte Sarkophag, eine von Tausenden Arbeitern im Eiltempo und unter Lebensgefahr über dem Reaktor errichtete Betonhülle, ist längst marode und muss dringend durch eine neue Umhüllung ersetzt werden. Von einer Geberländer-Konferenz in der Woche vor Ostern erhofft sich die ukrainische Regierung eine Zusage über die noch fehlenden 800 Millionen Euro.



Nicht nur für die Konservierung des Katastrophenreaktors fehlt der Ukraine allerdings seit Jahren das Geld. Präsident Viktor Janukowitsch weiß auch nicht, wie er Entschädigungen und Renten der Katastrophenhelfer von Tschernobyl, umgerechnet sechs Milliarden Euro pro Jahr, aufbringen soll. "Das ist eine zu schwere Last für unseren Haushalt", erklärte der Staatschef.



Glück im Unglück

Mehr als 600.000 sogenannte Liquidatoren aus der gesamten Sowjetunion waren nach dem Unglück in der Katastrophenzone im Einsatz. Viele der nach Tschernobyl abkommandierten Soldaten, Atomtechniker, Mediziner oder Lastwagenfahrer mussten wegen gesundheitlicher Probleme früh in Rente gehen. Die Vereinten Nationen schätzen, dass das Unglück für den Krebs-Tod von bis zu 4.000 Menschen verantwortlich ist oder noch sein wird. Greenpeace geht davon aus, dass die tatsächliche Opferzahl um ein Vielfaches höher liegt.



Dabei hatten Millionen Menschen in der Sowjetunion noch Glück im Unglück. Weil der Wind die radioaktive Wolke im April 1986 in nordöstlicher Richtung vom Katastrophenreaktor fortwehte, blieb die nahe gelegene ukrainische Hauptstadt Kiew mit rund drei Millionen Einwohnern von den Folgen der Katastrophe verschont.



Radioaktive Niederschläge verseuchten zwar das relativ dünn besiedelte Wald- und Sumpfgebiet im Osten Weißrusslands und das heutige weißrussisch-russisch-ukrainische Dreiländereck, allerdings blieb die Region um Moskau unversehrt. Die am stärksten betroffenen Gegenden wurden evakuiert und auf der weißrussischen Seite der heutigen Staatsgrenze zum Naturschutzgebiet erklärt.



Russland setzt weiter auf Atomkraft

Für die Atomindustrie der Sowjetunion bedeutete der Super-GAU von Tschernobyl zunächst einen kolossalen Rückschlag, etliche Neubauprojekte wurden nach Bürgerprotesten eingefroren. Die Bauruine eines geplanten Meilers auf der Krim dient inzwischen als gespenstische Kulisse für das größte Techno-Festival Osteuropas. Andererseits sind in Russland mehrere Graphitreaktoren vom Tschernobyl-Bautyp RBMK bis heute in Betrieb.



Und spätestens seit der Präsidentschaft von Wladimir Putin (2000-2008) setzt der Kreml wieder ganz auf den Ausbau der Atomenergie. In Weißrussland soll nach jahrelangen Verhandlungen das erste Atomkraftwerk gebaut werden, und auch die Ukraine hält die Atomkraft für unersetzlich. Der russische Staatskonzern Rosatom erwirtschaftete im vergangenen Jahr über anderthalb Milliarden Euro Gewinn und verkauft seine Technologie inzwischen unter anderem nach Indien, Vietnam und in die Türkei. Konzernchef Sergej Kirijenko verspricht seinen ausländischen Kunden die "sichersten Atomkraftwerke der Welt".