Thierse sieht katholische Kirche im Politik-Betrieb im Hintertreffen

Wenn Gutes zum Nachteil gereicht

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse sieht die katholische Kirche im politischen Betrieb im Nachteil. "Die evangelische Kirche erweist sich in vielen Fragen als geschmeidiger, während die katholische Kirche eine strengere Verbindlichkeit auch in moralischen Fragen artikuliert", sagte Thierse, der dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken angehört.

 (DR)

Der in Halle erscheinenden "Mitteldeutschen Zeitung" betonte Thierse (SPD) angesichts der für Sonntag erwarteten Wahl des evangelischen Theologen Joachim Gauck zum Bundespräsidenten und einer künftigen protestantischen Doppelspitze mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) allerdings, er halte die Frage nach den Konfessionen "für hoffnungslos überbewertet". Der SPD-Politiker sieht die katholische Kirche im Konflikt mit einem in der Politik geforderten Pragmatismus. In der Debatte um die Präimplantationsdiagnostik (PID) etwa habe die evangelische Kirche drei verschiedene Ansichten vertreten: "Da kann sich jeder Politiker bedienen. Die katholische Kirche war eindeutiger." Und sie stehe generell im Verdacht des Gestrigen. "Sie passt nicht. Sie ist lästig.

Das zeitgeistige Vorurteil gegenüber Katholiken zeigt auch in der Politik Wirkung", sagte Thierse dem am Donnerstagabend veröffentlichten Beitrag zufolge.



Der katholische CSU-Bundestagsabgeordnete Norbert Geis sagte der "Mitteldeutschen Zeitung" mit Blick auf Merkel und Gauck: "Ich bin grundsätzlich für ein ausgewogenes Verhältnis der Konfessionen, damit sich alle repräsentiert fühlen." Er würde das aber niemals zu einem Maßstab erheben. Der Sprecher der Christsozialen Katholiken, Thomas Goppel, stört sich nicht daran, dass der nächste Bundespräsident ein Protestant sein wird. Dieses Amt sei schließlich kein kirchliches, so Sprecher Thomas Goppel im Münchner Kirchenradio. Viel­mehr brau­che man als Bun­des­prä­si­dent Über­zeu­gungs­kraft, Re­de­fä­hig­keit und Qua­li­tä­ten im per­sön­li­chen Prä­sent­sein. "Die hat Joa­chim Gauck", be­ton­te der frü­he­re baye­ri­sche Kul­tus­mi­nis­ter. Die Ka­tho­li­ken in der CSU woll­ten nach den Dis­kus­sio­nen um den zu­rück­ge­tre­te­nen Prä­si­den­ten Chris­ti­an Wulff end­lich wie­der Ruhe im Land. Beate Klars­feld sei zudem für Ka­tho­li­ken keine Al­ter­na­ti­ve zu Gauck. Gop­pel räum­te al­ler­dings ein, dass Gauck als be­ken­nen­der Pro­tes­tant "ein Stück an­ders sei "als wir uns den All­tag und seine Ge­stal­tung vor­stel­len". Damit werde Po­li­tik in Deutsch­land durch­aus ein Stück pro­tes­tan­ti­scher wer­den, "was kein Scha­den zu sein braucht", so Gop­pel wei­ter. Ins­ge­samt sei es not­wen­dig, wie­der nach­hal­ti­ger am po­li­ti­schen Ka­tho­li­zis­mus zu ar­bei­ten, "um mit der Marke in der Welt zu re­üs­sie­ren". Tho­mas Gop­pel ist Mit­glied der 15. Bun­des­ver­samm­lung, die am kom­men­den Sonn­tag im Ber­li­ner Reichs­tag den nächs­ten Bun­des­prä­si­den­ten wählt.



Wissenschaftler: Katholiken geht politisches Personal aus

Nach Einschätzung des Bonner Politikwissenschaftlers Gerd Langguth hat die katholische Kirche zunehmend Schwierigkeiten, in der Politik Gehör zu finden. "Fast 500 Jahre nach der Reformation und den 95 Thesen Martin Luthers rangiert der politische Katholizismus nur noch unter ferner liefen", schreibt Langguth in einem Beitrag für "Spiegel online". Während sich an der Spitze des Staates und der CDU vor allem Protestanten fänden, gehe den Katholiken das politische Personal aus.



Als Gründe nennt Langguth die wachsende Säkularisierung und damit auch eine Schwächung der katholischen Organisationen, aus denen sich früher der Nachwuchs von CDU und CSU rekrutiert habe. "Der säkularisierte Mensch kommt eher mit evangelischen Politikern klar, weil der Protestantismus auf die Verantwortung des Individuums und damit auf die persönliche Freiheit setzt, während im Katholizismus der Gedanke des katholischen Kollektivs und einer besonderen Verantwortung gegenüber der katholischen Kirche leitend ist", so der Politikwissenschaftler. Nach seiner Einschätzung findet sich in der "operativen Funktionselite der CDU heute eine klare protestantische Mehrheit". In der früher "katholischen" Partei CDU seien die Vorsitzende, der Generalsekretär und der Fraktionsvorsitzende evangelisch.



Nach Meinung des Wissenschaftlers tun sich zugleich katholische Politiker in der Union im Unterschied zu früheren Jahrzehnten zunehmend schwer, ihren Katholizismus zu betonen. "Und die Ultramontanisten, die ihre politischen Entscheidungen in Rom absegnen lassen, sind fast völlig verschwunden und können ihre Haltung, wenn überhaupt, nur noch im Geheimen ausüben."