Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho über Rausch und Religion

"Paulus hatte den richtigen Riecher"

"Helau" oder "Alaaf" - Karneval, Fastnacht und Fasching sind in vollem Gange. Der Kulurwissenschaftler Thomas Macho erklärt die Hintergründe der jecken Tage in weiten Teilen Deutschlands.

 

Autor/in:
Paula Konersmann
 (DR)

KNA: Herr Macho, ist Religion noch das vielzitierte Opium für das Volk?

Macho: Ich glaube, das gehört der Vergangenheit an. Allerdings: In den postreligiösen Gesellschaften sind die Rauschpraktiken aus den etablierten Religionen ausgewandert und zum Beispiel in Sekten eingekehrt. Da funktionieren Rausch und Trance oftmals im Sinne der jeweiligen Ideologie.

KNA: In diesem Kontext ist der Rausch eher negativ besetzt. In indigenen Kulturen hingegen ermöglicht er einen Zugang zum Heiligen.
Verlieren wir ohne den Rausch nicht etwas?

Macho: Vielleicht ist der Rausch bei uns eher in die Privatsphäre abgerutscht. Das hat natürlich etwas damit zu tun, dass Religion bei uns insgesamt einem Prozess der Kulturalisierung ausgesetzt war - und immer noch ist. Alles, was früher einen Zugang zum Heiligen, zur Gotteserfahrung versprochen hat, findet heute eher privat als öffentlich statt. Erfahrungen des Rauschs werden durchaus gemacht und tradiert, ohne jedoch Ansprüche auf Erkenntnisgewinn zu erheben.

KNA: Jemand, der heute als Prophet auftritt, würde schnell als wahnsinnig abgestempelt. Oder?

Macho: Als wahnsinnig - oder als politisch gefährlich. Heutige Propheten-Figuren erzeugen sich stets ein ambivalentes Feld von Bewunderung und Aufmerksamkeit einerseits, andererseits aber auch von Abwehr. Deutschland ist seit 100 Jahren so prophetengeschädigt, dass die Menschen die Propheten satt haben. Das sieht in den USA anders aus, dort haben Propheten vermutlich bessere Chancen.

KNA: Kann nicht umgekehrt auch zu starkes Festhalten an der Vernunft in den Wahn führen?

Macho: Das könnte es schon. Aber in Deutschland ist das Festhalten an der Vernunft weniger das Problem. Die Ablehnung von religiösem Rausch hat eher mit dem Phänomen des gebrannten Kindes zu tun, das das Feuer scheut. Wir haben erlebt, wie verheerend die Wirkungen von Rausch, Faszination und Begeisterung sein können. Die Erfahrungen des Nationalsozialismus waren sehr prägend für unsere heutige Kultur. Die NS-Propagandastrategien zur Bindung der Massen arbeiteten viel mit Rauschzuständen - auch wenn Hitler gleichzeitig ein Abstinenzler war.

KNA: Wer noch verehrt wird, sind Künstler - gerade die, die zwischen Genie und Wahnsinn schweben. Ein Beispiel ist der französische Dichter Charles Baudelaire, der die Formulierung der «künstlichen Paradiese» geprägt hat. Können wir uns dem Paradies nur noch auf synthetischem Weg nähern?

Macho: Es sieht so aus, als würde man zumindest die Ahnung vom Paradies nur noch auf diesem Weg gewinnen. Für Künstler war der Rausch seit dem 19. Jahrhundert ein Mittel zur Erkenntnis - und die Kunst hat in der westlichen Gesellschaft in vielen Bereichen die Nachfolge der Religion angetreten. Auch die Medizin könnte man als Nachfolgerin religiöser Rauschzustände ansehen. Mediziner mussten auf vielfältige Weise ausprobieren, was es mit Rauschzuständen auf sich hat. Und der einzige Ort in unserer Gesellschaft, an dem man noch heute ohne den Umweg über die Illegalität an Opiate gelangt, ist ja nicht umsonst das Krankenhaus.

KNA: Stichwort religiöser Rausch: Einerseits etabliert der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief das vernünftige Sprechen, andererseits gilt die Glossolalie, das Sprechen in Zungen, als Gabe des Heiligen Geistes. Ist das nicht ein Widerspruch?

Macho: Das ist von Paulus genau in dieser Widersprüchlichkeit gemeint. Paulus hält das Zungenreden zwar nicht für unmöglich, versucht aber, etwas dagegen zu setzen. Das Zungenreden entspricht einem Trancezustand, der mit einem großen Glücksgefühl einhergehen kann - Psychologen würden von einem Flow sprechen. Die amerikanischen Pfingstgemeinden haben auch deshalb lange Zeit so viele Mitglieder gewonnen, weil sie genau das in ihren Gottesdiensten eindrucksvoll inszeniert haben. Paulus hingegen vertritt die Idee, dass diese Form von Religiosität sich mit den Botschaften des Christentums nicht verträgt. Vielleicht kann man durch die Glossolalie das Gefühl einer Übereinstimmung mit dem Kosmos erfahren, das Glück eines Kindes, das sich angenommen weiß - aber nicht die eigentliche Idee der Gemeinschaftsbildung. Vor allem zentrale Botschaften des Christentums wie die Auferstehung lassen sich nicht über das Medium der Glossolalie vermitteln. Daher hatte Paulus den richtigen Riecher.

KNA: Aber in dieser Erfahrung der Einheit, in der Sehnsucht nach Gemeinschaft, könnte doch auch eine Chance für die Kirchen liegen...

Macho: Das Erlebnis der Gemeinschaft im Rausch hat viel mit Ausbruch, Protest und Provokation zu tun - Beispiele dafür sind Woodstock und andere Pop-Festivals. Das kann schlecht ein Vorbild für die Institution Kirche sein, weil sie die Gemeinschaft viel stärker entritualisieren müsste. Dafür wären die Kirchen wohl keine geeigneten Orte. Allerdings gibt es auch in der katholischen Tradition Ausnahmezeiten wie den Karneval, in denen Protest und fröhlicher Widerstand geübt werden können.

KNA: Welche Rolle spielen die jecken Tage heute noch?

Macho: In den Karnevalshochburgen sind sie durchaus wichtig. Aber vieles davon ist inzwischen nur noch Konvention oder Geschäft. Es kommt aber darauf an, dass noch etwas von dem Überschwang erfahren wird, der mit dem Karneval einmal verbunden war, vom Spiel mit der verkehrten Welt: Die Diener werden zu Herren, die Herren zu Dienern. Ich hoffe, dass dieser Kern nicht verloren geht, denn sonst funktioniert Karneval nicht mehr.


Quelle:
KNA