Hirten sind heute selten geworden. Dabei denkt man nicht nur an die Schaf- oder Ziegenhirten, die sich um ihre vierbeinigen Tiere kümmern sollen. Es geht vor allem um konkrete Menschen, die Hirtendienste übernehmen, die durch das Sakrament der Priesterweihe in die Geheimnisse Gottes eingeweiht und für den Dienst an den Menschen ausgeweiht werden. Manche Geistliche führen zwar den Hirtentitel und lassen sich "Pastor" nennen; aber eigentlich geht es ihnen weniger um die ihnen anvertraute Herde, sondern um sich selbst.
Fast zynisch stellte schon Papst Gregor der Große fest: "Die Welt wimmelt von Priestern, aber nur selten sieht man einen Arbeiter in Gottes Ernte." Und ein Zyniker unserer Zeit bemerkt messerscharf: "Es gibt heute zwei Arten von Hirten: Die einen interessieren sich für die Wolle, die anderen interessieren sich für das Fleisch. Für die Schafe interessiert sich niemand." Ohne Zweifel ein hartes Wort. Doch der "Stallgeruch" unserer Gesellschaft gibt dem Kritiker recht.
Hirten dieser Art gibt es genug. Sie spekulieren auf Wolle und Fleisch. Was sie interessiert, ist der Nutzwert, der Ertrag. Die Leistung zählt. Der Mensch wird "taxiert", was schon im Reagenzglas beginnt. Er ist das, was er einmal leisten wird. Je mehr er einmal auf die Bank bringt, desto höher steigt sein Marktwert. Wer nichts mehr leistet, wird zum alten Eisen geworfen.
Doch wir wollen nicht nur über die Gesellschaft schauen, sondern auch auf die Kirche. Jesus sagt ihr das schöne Wort zu: "Ich bin der gute Hirt. Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich". Mit dem Bild vom guten Hirten hat Jesus eine tiefe Sehnsucht des antiken Menschen angesprochen. Die Juden sahen in Gott den wahren Hirten, der sein Volk leitet. In seinem Auftrag war Mose der Hirte und Führer seines Volkes. Auch bei den Griechen war das Motiv des Hirten beliebt: Gern hat man ihn sich in einem großen Garten vorgestellt, ein Schaf auf seinen Schultern. Der Garten sollte an das Paradies erinnern. So verbindet sich mit dem Hirten die Sehnsucht nach einer heilen Welt. Die frühen Christen haben diese Vision Israels und Griechenlands aufgegriffen und weiterentwickelt, indem sie auf Christus blickten. Jesus verwirklicht mit der Rede vom Hirten die Bilder des Heils, die in der Seele der Menschen schlummern.
Am Maßstab des guten Hirten werden auch die Hirten von heute gemessen, besonders die Priester. So stoßen wir auf eine Eigenschaft, die einen Hirten nach dem Herzen Gottes auszeichnet. Es ist das Wissen umeinander, die Kenntnis voneinander, die Zuneigung füreinander, kurz: die Vertrautheit, die zwischen Hirt' und Herde herrscht. Jesus nimmt jeden Jünger und jede Jüngerin persönlich. Jeder Einzelne ist ihm wichtig. Jeden kennt und nennt er mit Namen, nicht als Nummer. In der Heiligen Schrift haben "kennen" und "lieben" oft den gleichen Sinn. Also dürfen wir das Verhältnis zwischen dem Hirten und seinen Schafen ohne weiteres als intime Beziehung deuten.
Der Hirt kennt seine Schafe nicht nur aus der Pfarrkartei oder - in der modernen Version - nach der Computerdatei, sondern persönlich: Er hat sie gern, er liebt sie. Doch weder Zettelkästen noch Monitore strahlen Liebe aus. Deshalb muss der Priester von heute Mensch sein mit Fleisch und Blut - sowohl ein menschlicher Geistlicher als auch ein geistlicher Mensch, ein Mann, der etwas ausstrahlt von der zärtlichen Liebe Gottes.
Das erinnert an die Gestalt des Orpheus, der durch seine Lieder die Menschen verzauberte. Seit jeher sind es Liebeslieder, die dem Orpheus in den Mund gelegt werden. Hirten gelten als Sänger der Liebe, gleichsam als Minnesänger von Gottes Menschenfreundlichkeit.
Ein solcher Minnesänger ist Papst Franziskus. Bei der Chrisammesse im Petersdom hat er ein Bild gebraucht, das sinnlich ist: Von der Akustik wechselte er in den Geruchssinn, als er die Hirten von heute an den "Stallgeruch der Herde" erinnerte. Die Ermutigung an die Priester, aus sich herauszugehen bis in die "Randgebiete", verband er mit der Mahnung, nicht um sich selbst zu kreisen und sich "selber in Duft zu hüllen". Traurige Hirten helfen der Herde nicht. Frohe Priester hingegen sind "weder Antiquitäten- noch Neuheitensammler", sondern "Hirten mit dem Geruch der Schafe". Der Aufruf des Papstes ist sehr konkret: "Seid Hirten mit dem Geruch der Schafe, dass man ihn riecht - Hirten inmitten ihrer Herde." Also: Stallgeruch ist gefragt, nicht After Shave!