Publizist Püttmann über ein Europa in Zeiten der Säkularisierung

"Christliche Werte brauchen christliche Religion"

Am 25. Mai sind Europawahlen. Welche christlichen Werte liegen Europa zugrunde? Im domradio.de-Interview erklärt der Publizist Andreas Püttmann, wie christlich Europa auch in Zeiten immer fortschreitender Säkularisierung ist.

 (DR)

domradio.de: Herr Püttmann, wie christlich ist denn das christliche Abendland?

Andreas Püttmann: Sehr unterschiedlich. Wenn man natürlich nach der Prägung Europas durch das Christentum fragt, dann bekommt man Mehrheiten von 68 Prozent in Deutschland, die sagen, Europa ist sehr stark oder stark vom Christentum geprägt. Wenn man dann fragt, wie sehr ist Deutschland vom Christentum geprägt, dann werden aus den 68 schnell nur noch 48 Prozent. Daran sieht man schon, dass man hier die Gesamtebene von Europa von einzelnen Ländern unterscheiden muss. Und der Glaube an einen persönlichen Gott, der liegt in Polen etwa bei 60, in Portugal bei 58 Prozent. Selbst in Russland liegt er heutzutage bei 40 Prozent. Westdeutschland dagegen liegt da bei 32 Prozent, Ostdeutschland bei 8,2! Wir haben eine große Vielfalt an religiösen Kulturen und auch an Christlichkeit in den einzelnen Ländern. Wobei man generell sagen kann, dass die evangelisch geprägten Regionen Europas sich stärker säkularisiert haben als die katholischen und die orthodoxen. 

domradio.de: Wenn man vom christlichen Abendland redet, dann redet man ja auch immer von den christlichen Werten. Welche Werte sind es denn, auf denen Europa aufbaut?

Püttmann: Wenn man die Europäer selbst fragt, dann kommen natürlich so Begriffe wie: Menschenrechte, Demokratie, Frieden, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität und Respekt gegenüber dem menschlichen Leben. Das war eine Umfrage von 2010, bei der man drei Werte nennen sollte, die am besten die Europäische Union repräsentieren. Das hört sich zunächst erst einmal alles sehr politisch an, aber ist natürlich auch mit christlichen Wurzeln verbunden. Die christliche Lehre von der Einheit des Menschengeschlechts, von der Gleichheit seiner Glieder, von der Würde und Freiheit der Personen, die zur Eigenverantwortung zur Nächstenliebe und zur Bewährung vor Gott gerufen ist, das hat sich dann säkular bahngebrochen in der Solidarität, im Recht des Menschen gegenüber dem Staat, aber auch gegenüber gesellschaftlichen Mächten, im Frieden - der in Deutschland als Wert besonders hoch gehalten wird - und in der Rechtsstaatlichkeit. Man darf das nicht alles für das Christentum einseitig vereinnahmen. Europa ist nach einem Wort von Theodor Heuss von drei Hügeln ausgegangen: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen sei das Abendland geistig gewirkt, man müsse alle drei als Einheit sehen. Aber natürlich ist durch die Jahrhunderte hindurch das Christentum von einer sehr starken Prägekraft gewesen. Und auch die säkularen Mitglieder der europäischen Gesellschaften, also diejenigen, die wenig oder gar keinen kirchlichen Bezug haben, sind natürlich christlich geprägt durch ihre Kultur.

domradio.de: Aber auch in den christlich geprägten Ländern gibt es eine immer weiter voranschreitende Säkularisierung. Da fragt man sich natürlich: Was wird denn in Zukunft aus dem "Europa der christlichen Werte"? Werden diese Werte möglicherweise mit der Säkularisierung verwässern?

Püttmann: Ich denke schon, dass man christliche Werte auf die Dauer nicht ohne christliche Religion aufrechterhalten kann. Ich sagte gerade, dass heute säkulare Menschen - auch wenn sie keinen Kirchenbezug mehr haben - trotzdem noch sehr stark in ihren Denkkategorien christlich geprägt sind, aber das wächst sich von Generation zu Generation aus. Man kann also nicht einfach sagen, dass sei jetzt ein für alle Mal erworben und es werde keinen Rückfall dahinter geben. Man sieht das daran, dass die kirchennahen Christen in der empirischen Sozialforschung schon ein sehr eigenes Profil haben. Dass der Impuls anderen Menschen zu helfen, sich den Schwachen zuzuwenden, sich insbesondere für das Lebensrecht einzusetzen - also gegen Abtreibung, gegen aktive Sterbehilfe zu optieren - dass sich hier die christlichen Bürger stark unterscheiden.

Ich kann als Sozialwissenschaftler nur den Schluss daraus ziehen, dass sich diese unterschiedlichen Einstellungen auch in unterschiedlichen Verhalten manifestieren. Wir sehen es ja schon, auch die EU hat einige problematische Beschlüsse im Bereich der Bioethik und des Lebensrechts gefällt. Da zieht schon etwas herauf, was Johannes Paul II. mal als Kultur des Todes bezeichnet hat. Auf der anderen Seite darf man auch nicht alles verteufeln, was von der säkularen Welt kommt. Manchmal hat der Heilige Geist auch über die säkularen Kräfte geweht. Wenn wir etwa an den Widerstand der Päpste gegen die Menschenrechte denken oder an die Verteufelung der Juden durch Martin Luther, dann ist mancher humanitärer Fortschritt auch gerade nicht von den Kirchen ausgegangen, auch wenn diese Werte im Grunde illegitime Kinder des Christentums sind.

domradio.de: Gleichzeitig mit der Säkularisierung wird aber auch in Europa immer wieder ein rechtskonservativer Ruck beklagt. Stellen Sie denn auch jetzt fest, kurz vor der Europawahl?

Püttmann: Ja, der ist in der politischen Arena zu merken, wenn Sie etwa an die Erfolge rechtsradikaler Parteien denken, zum Beispiel in Frankreich den Front National mit Marine le Pen. Oder in Deutschland das Entstehen einer Partei rechts von den C-Parteien, wie der AfD. Die kann man jetzt zwar nicht mit dem Front National vergleichen, aber auch dort werden Kräfte angezogen, die ins nationalkonservative Spektrum gehören, die man früher in der Weimarer Republik der Deutschnationalen Volkspartei zugeordnet hätte. Das gibt es auf der politischen Ebene.

Wir müssen uns aber natürlich auch einmal die Christen anschauen. Ich glaube auch, dass es in den christlichen Konfessionen zum Teil diesen Rechtsruck gibt. Dass etwa unverhohlen Sympathien für Putin als Hüter der christlichen Familienauffassung geäußert werden. Oder sogar Leute, die Putin als praktizierenden Christen bezeichnen und dann behaupten, eigentlich hätten wir wachsende Übereinstimmungen mit Russland. Und behaupten, dieser "schreckliche Obama" und die "verlotterte Europäische Union" würden unseren christlichen Ethos verderben. Das sind natürlich Milchmädchenrechnungen, denn die christliche Ethik besteht ja nicht nur aus der christlichen Auffassung von Ehe und Familie. Also da bahnen sich Allianzen an, etwa auch mit der rechtskonservativen Zeitung "Junge Freiheit“, wo einige dezidierte Christen auch als Autoren auftauchen. Da muss man sagen: Überlegt euch das noch einmal sehr gut, ob ihr damit nicht den christlichen Werten einen Bärendienst erweist.

Das Interview führte Matthias Friebe.


Quelle:
DR