epd: Schwester Hatune, Sie haben selbst eine Flüchtlingsgeschichte hinter sich. Als 14-Jährige sind Sie mit Ihrer christlichen Familie aus dem Südosten der Türkei geflohen. Ihr Bauernhof wurde mehrmals angegriffen. Hat Sie das zu ihrem Engagement für Bedürftige und Flüchtlinge befähigt?
Hatune Dogan: Nachdem ich die Freiheit in Deutschland genießen konnte, wollte ich nicht einfach ruhig hier sitzen bleiben und hören, dass Mädchen im Nahen Osten vergewaltigt und entführt werden. Ich konnte sie nicht im Stich lassen. Ich versuche meine ganze Kraft dazu zu verwenden, für gerade diese missbrauchten Mädchen da zu sein oder sie freizukaufen aus den Händen der Kidnapper. Das gelingt immer wieder mit unserer Schwester-Hatune-Stiftung. Ich weiß, dass es ein großes Risiko und manchmal sogar lebensgefährlich ist, in die Krisengebiete des Nahen Ostens zu gehen. Aber die Mädchen können nicht zu mir nach Deutschland kommen, deshalb muss ich zu ihnen gehen. Sie brauchen unsere Hilfe. Ich habe mein Leben Matthäus 25,40 gewidmet: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan."
epd: Sie reisen immer wieder in den Nahen Osten. Ihre Verwandten sagen, Sie führten ein "wildes Leben". Was haben Sie dort erlebt?
Dogan: Wir haben Decken, Nahrung, Medizin verteilt und bis spät in die Nacht gearbeitet. Ich habe auch wieder traumatisierte Mädchen betreut, die aus den Händen der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) befreit wurden. Diese Mädchen durften an meiner Schulter weinen. Das ist meine hauptsächliche Arbeit. Ich bin Gott sei Dank Seelsorgerin, Theologin und Psychologin. Ich verstehe sie, weil ich diese Erfahrungen auch gemacht habe. Ich bin selbst zwischen meinem sechsten und vierzehnten Lebensjahr vier Mal einer Vergewaltigung entkommen. Ich spreche die Sprachen des Nahen Ostens, bin in dieser Gegend aufgewachsen. Die Kultur, die Unterdrückung, das alles ist für mich nicht fremd. Ich bin selber eine Frau. Die Mädchen sollen die Chance haben, sich aussprechen zu können, denn ich kann sie nicht heilen. Ich kann aber ihre Tränen trocknen, sie umarmen und für sie da sein.
epd: Für Ihre Familie war es nicht einfach, Ihre Entscheidung für ein Leben im Kloster zu akzeptieren. Zweifeln Sie manchmal an Ihren Entschlüssen?
Dogan: Das Leben im Orden ist nicht so einfach. Manchmal muss man an fremde Orte gehen, einfach gehorchen und annehmen, was auf einen zukommt. Man muss sich auch von einigen Gedanken dieser Welt trennen, keine Kinder haben, keinen Mann haben. Aber wenn die Entscheidung gefallen ist, ist nichts leichter, als diesen Weg zu gehen. Eine Mutter zu sein ist sicher hundertmal schwerer, als eine Ordensschwester. Bevor mein Vater gestorben ist, sagte er zu mir: "Hatune, ich bin stolz auf dich, weißt du warum? Du hast zwar keine eigenen Kinder, aber du hast sechs Millionen Kinder, um die du dich kümmerst." Ich bin mit 17 Jahren ins Kloster gegangen. Ich bin jetzt seit 27 Jahren im Orden und bin die glücklichste Frau der Welt, dass ich diesen Weg gewählt habe.
epd: Die Kinder erzählen Ihnen teilweise grausame Geschichten von Mord und Misshandlungen. Wie verarbeiten Sie das?
Dogan: Die Antwort darauf ist nicht so einfach. Ich bin sehr stark in meinem Glauben verwurzelt, habe Theologie studiert. Durch mein Psychologiestudium weiß ich, wie ich mit belastenden Situationen umgehen kann. In der Bibel gibt es ja auch viele Geschichten des Leidens. Man muss einfach nur weitermachen. Ich habe oft geweint, aber dann habe ich mich immer wieder aufgerafft und gesagt: "Hatune, was nutzt es dir, wenn du weinst? Du musst was tun!" Deshalb heißt mein Buch auch "Ich glaube an die Tat". Blabla sagen kann jeder.
epd: Wie sieht Ihr persönliches Verhältnis zum Islam aus?
Dogan: Ich akzeptiere Muslime als Mitmenschen, wir sind alle Kreaturen Gottes - Menschen. Ich habe persönlich keine Probleme mit Muslimen. In unserer Stiftung gibt es zum Beispiel eine Familie aus Dubai, die uns unterstützt. Aber ich habe so viele schlechte Erfahrungen gemacht, meine Vorfahren in der Türkei haben als Christen so viele Grausamkeiten erlebt und wurden verfolgt, einige ermordet.
Ich habe überhaupt kein Vertrauen mehr zum Islam. Wer sagt, dass der IS nichts mit dem Islam zu tun hat, belügt sich selbst. Ich liebe die Menschen, aber ich hasse die Gesetze, die den Menschen verletzen.
Das Interview führte Nora Frerichmann.