domradio.de: Was würden Sie den Verantwortlichen der EU raten, was müssten die nächsten Schritte für eine menschwürdige und gerechte Flüchtlingspolitik sein?
Rupert Neudeck (Friedenskorps Grünhelme und Gründer der Flüchtlingshilfeorganisation Cap Anamur): In der Europäischen Union haben wir noch keine Flüchtlingspolitik. Das ist das Beklagenswerte. Es gibt auch noch keine Europaflagge für die Schiffe im Mittelmeer. Das alles wäre so unglaublich hilfreich. Die Staaten im Süden des Kontinents Italien, Spanien, Malta dürfen nicht überbelastet werden. Es muss ganz schnell eine solidarische Aktion her, vielleicht mit Hilfe einer gemeinsamen Quote (Aufteilung der ankommenden Flüchtlinge in Europa nach Quoten, Anm.d.Red.). Wenn die Quote nicht zustande kommen kann, weil Großbritannien und Polen und andere nicht mitmachen wollen, dann hat die europäische Union immer eine Möglichkeit gefunden, die Staaten zusammen zu binden, die das wollen. Das haben wir bei Schengen, das haben wir beim Euro gehabt, das muss jetzt auch bei der Quote sein. Jetzt geht es wirklich um Schnelligkeit. Wir müssen diese Fragen der heranbrandenden hunderttausender junger Menschen jetzt schnell lösen und wir können sie nicht einfach lösen mit Frontex, mit einer gemeinsamen Polizei, die die Grenzen absichert. Das wird nicht gelingen. Deshalb muss Europa anfangen, eine gemeinsame Politik zu entwickeln. Das hat es aber noch nicht einmal im Ansatz getan.
domradio.de: Dem Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki liegt die Flüchtlingsfrage sehr am Herzen. In der vergangenen Woche hat er sich mit Ihnen zusammengesetzt und überlegt, was wir hier konkret tun können. Was schon feststeht: Am Vorabend des Weltflüchtlingstags am 19. Juni soll es auf dem Roncalli-Platz direkt am Kölner Dom einen großen ökumenischen Gottesdienst geben, um auf das Schicksal der Flüchtlinge aufmerksam zu machen. Da sollen auch einige Flüchtlinge selbst zu Wort kommen. Welches Signal kann von diesem Gottesdienst ausgehen?
Neudeck: Das Wichtige ist: Wir Christen müssen sehen, dass die Politik in dieser Frage wirklich gehemmt und am Ende ist. Wir müssen als Christen und als Kirchen anfangen, der Politik zu helfen. Deshalb sind wir so bebend dabei, zusammen zu überlegen, ob nicht die Kirchen, die Christen in Deutschland, auch in Italien, in Frankreich, gemeinsam ein Schiff machen, dass ein Schiff der Barmherzigkeit ist und gleichzeitig gemeinsam Berufsausbildungszentren in den Ländern Nordafrikas, aber auch Westafrikas zu schaffen. Wir müssen anfangen, hilfreich zu sein für diese Menschen. Die Politik ist manchmal gehemmt und gefesselt. Wir müssen ihr dabei helfen, das könnte eine ganz große Aufgabe von uns Christen in Deutschland, Italien, Frankreich und anderswo sein.
domradio.de: Welche Möglichkeiten hat denn jeder Einzelne von uns, um wirklich etwas für Flüchtlinge zu tun?
Neudeck: Jeder kann etwas tun. Das haben wir in den Gemeinden überall erlebt und ich erlebe das auch, dass ganz viele bereit sind, besonders ältere Menschen. Die etwas tun wollen, können das tun, indem sie ihren Beruf ausnützen. Ältere Lehrer können zum Beispiel in den Asylbewerberunterkünften Unterricht geben. Diese Menschen beben danach, etwas in der deutschen Sprache zu lernen. Sie möchten auch ganz schnell Deutsch können, jeder kann eine Patenschaft mit einer syrischen Familie oder einer nordirakischen oder einer jesidischen Familie in seinem Kreis übernehmen. Es ist ganz ganz viel zu tun. Ich denke, jeder kann sich aufgerufen fühlen, auch wenn er nicht Christ ist, dazu beizutragen, dass diese deutsche Gesellschaft im Jahre 2015 auch weiterhin eine menschenfreundliche und flüchtlingsfreundliche Gesellschaft bleibt.
Das Interview führte Hilde Regeniter.