KNA: Herr Neudeck, welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Flucht?
Rupert Neudeck: Obwohl ich damals erst fünf Jahre alt war, sind die Eindrücke von damals so wirkmächtig, dass ich sie das ganze Leben nicht vergessen werde. Ich habe einen deutschen Soldaten an einem Baum baumeln sehen. Und darunter eine Inschrift, die meine Schwester schon entziffern konnte: "Ich bin ein Verräterschwein!" Das ist so ein apokalyptisches Bild. Nicht vergessen habe ich auch, wie jemand vor mir im Flüchtlingstreck plötzlich tot umfiel, mitten im Laufen.
KNA: Ein anderes Thema, das sich durch ihr Leben zieht, ist der Untergang von Flüchtlingsschiffen. Hat die Gründung von "Cap Anamur" Ende der 70er Jahre wirklich mit dem Untergang des früheren Kreuzfahrtschiffs "Wilhelm Gustloff" zu tun?
Neudeck: Wir sind damals zum Hafen von Gdingen geflohen, heute heißt die Stadt Gdynia, damals trug sie den Nazi-Namen Gotenhafen. Da haben wir am 30. Januar 1945 um zwei Stunden die "Wilhelm Gustloff" verpasst. Wir hatten Bordkarten, aber wir sind zu spät gekommen - und das hat uns dann das Leben gerettet. Denn das Schiff wurde dann am Abend in der Ostsee von drei sowjetischen Torpedos getroffen, und über 9.500 Menschen, die sich auf dieses Schiff geflüchtet hatten, sind in den Fluten der Ostsee ertrunken.
KNA: Hatten Sie dieses Bild vor Augen, als sie 40 Jahre später Tausende Vietnamesen aus dem Chinesischen Meer gerettet haben?
Neudeck: Ich kann das nicht so klar sagen, aber es gibt sicher archetypische Bilder, die sich im Bewusstsein von Menschen ablagern.
Warum sonst haben mich die Berichte über ertrinkende vietnamesische Flüchtlinge im südchinesischen Meer Ende der 70er Jahre so gepackt und aufgeschreckt, dass wir 1979 die Hilfsorganisation Cap Anamur gegründet und mit unserem Schiff Menschen gerettet haben?
KNA: Sie sind dann im Juni 1945 unfreiwillig auf dem großen Treck nach Westen gezogen. Was ist die wichtigste Erinnerung?
Neudeck: Zum einen die große Leistung der Frauen damals. Die Männer waren noch im Krieg, und sie haben es geschafft, dass wir Kinder auf der Flucht überleben konnten. Das ist noch viel zu wenig gewürdigt worden. Und zum anderen weiß ich noch sehr genau, dass fast alle unsere Gedanken ums Essen kreisten. Wir haben Spinat aus Brennnesseln gekocht. Wir wurden immer dünner, waren völlig verlaust. Und die Erwachsenen konnten uns nicht helfen und uns keinen Schutz bieten. Das ist das Furchtbare bei so einer Situation.
KNA: Sie sind dann nach Schwerte in Westfalen gekommen. Wie wurden Sie aufgenommen?
Neudeck: Natürlich waren wir nicht willkommen. So viele Menschen waren ausgebombt, kämpften ums Überleben, die Wirtschaft lag am Boden. Und dieses Land musste dann noch 12 Millionen Menschen aufnehmen...
KNA: Aber es hat geklappt. Warum?
Neudeck: Ja, die Deutschen haben das geschafft, trotz aller Entbehrungen. Das muss man sich heute vor Augen halten, wenn so wehleidige Klagen über die Aufnahme weit geringerer Zahlen von Flüchtlingen laut werden. Gut war, dass es in den Nachkriegsjahren eine Zwangsbewirtschaftung gab. Unsere Familie - sechs Personen - bekam nach einem Übergang von drei Wochen in einem Flüchtlingslager zwei Zimmer in einem Haus zugewiesen, das einer reichen Familie in Schwerte gehörte. Jetzt sagen viele: Das war ja ganz furchtbar. Aber für Flüchtlinge, die in Not sind, ist nicht das Materielle das Entscheidende, sondern die Klarheit des Status. Wir wussten, dass uns niemand dort wieder rausholen konnte. Wir waren in Sicherheit.
KNA: Würden Sie sagen, dass Sicherheit auch heute das Entscheidende für Flüchtlinge wäre?
Neudeck: Flüchtlinge brauchen Freiheit von Angst, helfende Hände, eine Perspektive auf Zukunft - also auch Nahrung für Herz und Seele.
Das ist das Allerwichtigste. Das geht mir jedesmal durch den Kopf, wenn ich jetzt wieder erleben muss, dass Hunderttausende von syrischen Kindern, von irakischen, von jesidischen, von christlichen, von muslimischen Kindern in der gleichen Situation sind, der Ausgesetztheit, der völligen Schutzlosigkeit.
KNA: Sie trauen den Deutschen auch heute zu, wieder viele Flüchtlinge zu integrieren?
Neudeck: Deutschland hat aus den Kriegserfahrungen heraus eine sehr aufnahmebereite und hilfswillige Bevölkerung. Das haben wir auch bei der Aufnahme der Vietnamesen oder nach dem Bosnienkrieg bewiesen, als auf einen Schlag 380.000 Muslime aufgenommen wurden. Das hat kein anderes Land in Europa geschafft. Die meisten Menschen wollen helfen.
Leider bekommen die wenigen Schreihälse, die das nicht wollen, etwas zu viel Ehre in den Medien.
KNA: Was muss denn aus Ihrer Sicht geschehen, damit die Flüchtlinge integriert werden können?
Neudeck: Wie schon gesagt: Sie brauchen Schutz und Hilfe und eine Zukunftsperspektive. Sie müssen die Chance haben, für sich selbst zu sorgen, also eine Arbeit bekommen. Das hat die deutsche Politik zu lange zu verhindern gesucht und damit Probleme selbst geschaffen.
Wichtig wäre auch, die Flüchtlinge nicht lange in großen Lagern zu belassen. Das ist schwer, klappt aber da, wo die Gemeinden und wo die Verwaltungen bereit sind, die Bedürfnisse dieser Flüchtlinge als Menschen zu akzeptieren. Neulich war ich in Minden in Westfalen. Dort hat die Verwaltung es geschafft, alle bisher angekommenen Flüchtlinge und Asylbewerber in Privatquartieren unterzubringen, aus der Einsicht heraus, dass das für die Integration dieser Menschen besser ist.
KNA: Sie selber haben erlebt, dass sich solche Großzügigkeit auch persönlich auszahlen kann...
Neudeck: Es gibt in Köln einen Kardiologen, der damals von Cap Anamur gerettet wurde. Er hat eine ganz besondere Technik entwickelt, das sogenannte Vorhofflimmern des Herzens mit einem Laser zu beheben. Und das hat er bei mir geschafft, und deshalb habe ich scherzhaft gesagt: Wir haben Sie gerettet, Sie haben mich gerettet. Jetzt sind wir quitt.
Das Interview führte Christoph Arens.