domradio.de: Das offizielle Endergebnis steht zwar noch aus, aber die AKP bekommt fast 50 % der Stimmen und damit 316 von 550 Sitzen im Parlament. Hatte man das so erwartet?
Lale Akgün: Nein, gar nicht. Die ganzen Prognosen gingen ja dahin, dass ein ganz ähnliches Ergebnis wie vor fünf Monaten zustande kommen würde. Man hat gehofft, dass wenigstens eine Koalition zwischen der AKP und einer anderen Partei entstehen würde.
domradio.de: Ist es für Sie erklärbar, dass wir nun so überrascht worden sind?
Lale Akgün: Nein, es ist nicht überraschend. Denn die Unruhen, wie der Krieg mit der PKK und die immer wiederkehrenden Zusammenstöße mit Liberalen und Linken, die in den letzten Monaten das Land überzogen haben, erzeugten eine Stimmung, die die Menschen in die Arme der AKP geführt haben. Darin liegt die Hoffnung, dass wieder Ruhe ins Land einkehrt. Dazu kommt, dass die Wirtschaft immer mehr schwächelt und die Menschen mit der AKP einen gewissen Wohlstand verbunden haben.
domradio.de: Als Staatschef ist Erdogan ja eigentlich zu Neutralität verpflichtet, aber daran scheint er sich nicht zu halten, sondern er warb wieder offen für die AKP. Liegt der Wahlerfolg auch an ihm?
Lale Akgün: Der Wahlerfolg liegt nur in seinen Händen. AKP ist Erdogan und Erdogan ist AKP. Der Ministerpräsident Davutoglu war immer schon blass. Wenn Sie sich Karikaturen anschauen, dann sitzt er immer auf dem Schoß von Erdogan und fragt ihn, was er machen soll. Erdogan würde nie die Fäden aus der Hand geben, denn er weiß, wenn er weg ist, würde sich die AKP auch sofort spalten. Der einzige Wehrmutstropfen, der in diesem Wahlsieg liegt, ist, dass er nicht zwei Drittel der Stimmen bekommen hat. Damit hätte er seine Herrschaft auch rechtlich ausbauen können. Aber das Recht hat die Jungs von der AKP noch nie besonders interessiert. Hauptsache, sie können schalten und walten, wie sie wollen. Das Ergebnis ist gestern von Ministerpräsident Davutoglu auch in einer Weise mehrfach kommentiert worden, die mir persönlich Angst macht. Er hat immer wieder Gott erwähnt und gesagt, dass man nicht selber gesiegt habe, sondern Gott gesiegt habe. Die Islamisierung der Türkei wird sich in den kommenden Wochen und Monaten mit Siebenmeilenstiefeln fortsetzen. Das ist so sicher, wie das Amen in der Kirche, um den Vergleich einmal zu nehmen. Es gibt aber noch einen zweiten Punkt, der mir Sorge bereitet. Denn Davutoglu hat auch gesagt, dass mit dieser Wahl klar sei, dass Erdogan Staatspräsident aller Menschen in der Türkei sei. Aus diesem Wahlsieg hört die AKP damit raus, dass man eigentlich schon das Präsidialsystem habe. Denn die Menschen haben ja auch Erdogan gewählt. Auch mehrere Kommentatoren im türkischen Fernsehen sagten gestern, dass es keine Wahl gewesen sei, sondern vielmehr ein Referendum über Erdogan.
domradio.de: Sie haben es angedeutet und sehen eine weitere Islamisierung der Türkei voraus. Welche Erscheinungsformen kann das denn annehmen? Womit ist da zu rechnen?
Lale Akgün: Zwei Dinge halte ich diesbezüglich für fürchterlich. Das eine ist, dass sich die Frauenrechte immer mehr zurückbilden werden. Diese Wahl hat die AKP gewonnen, aber verloren haben die Frauen in der Türkei. Wenn Sie sich einmal die Fernsehbilder anschauen: Die Sichtbarkeit der Frauen auf der Straße wird immer weniger, die Kinderehen nehmen zu und die rechtlichen Möglichkeiten der Frauen nehmen ab. Das Leben auf der Straße wird immer mehr eingeschränkt. Das sind Äußerlichkeiten, die uns klar machen, dass Erdogan letztendlich die Scharia einführen will. Er sagte immer wieder, dass Gottes Gesetze über den Gesetzen der Menschen stehen. Solche Dinge machen klar, dass Erdogan die Wahl gewonnen hat und neben den Frauen auch alle Liberalen etwas verloren haben, nämlich ihre persönliche Freiheit. Es wird immer mehr dazu führen, dass in den Städten eine Art Scharia-Polizei eingeführt wird. Es wird ja jetzt schon kontrolliert, wie sich jemand auf der Straße benimmt, was jemand sagt. Das Schlimme für uns in Deutschland ist, dass dies auch Auswirkungen auf die Türken in unserem Land hat, die auch mehrheitlich die AKP gewählt haben. Denn sie gehen davon aus, dass Erdogans Wort nunmehr Gesetz ist. Das Zweite, was mir Sorgen macht, sind die Kontakte zwischen der AKP und dem IS. Der IS wird in der Türkei demnächst mehr Freiheiten haben. Und letztendlich war der IS noch nie so nah an Deutschland wie seit gestern Abend.
domradio.de: Schauen wir noch auf die Konsequenzen für die deutsche Außenpolitik mit Verbindungen zur Türkei. Die gibt es bei der Flüchtlingsfrage und der Situation in Syrien. Was erwarten Sie?
Lale Akgün: Ich befürchte, dass man nun alle Augen in der Hoffnung zudrückt, dass die Türkei das Flüchtlingsproblem für Deutschland und die EU lösen wird. Das halte ich eigentlich für eine falsche Entscheidung. Ich glaube nämlich nicht, dass die Türkei ein sicheres Herkunftsland ist, schon gar nicht für die Flüchtlinge, die in der Türkei im Elend leben. Irgendwelche politischen Absprachen mit der Türkei werden nicht den Flüchtlingen dort im Lande zugute kommen, sondern der AKP und der Regierung, die ja auch den Besuch von Bundeskanzlerin Merkel in der vergangenen Woche weidlich ausgenutzt hat. Sie haben den Besuch genutzt, um zu sagen, dass man von Europa akzeptiert werde. Kanzlerin Merkel kommt zu uns, um uns zu bitten, etwas zu machen. Alle diese Dinge zeigen mir, dass eine Zusammenarbeit mit der AKP sehr gut überdacht werden müsste. Und noch ein Tabu wird gebrochen, was für Deutschland wichtig ist: Schon gestern Abend konnte man israel-feindliche Parolen auf der Straße hören. Eine antisemitische Atmosphäre dieser Politik der AKP durchzieht die ganze Türkei. Ich weiß nicht, ob sich unter diesen Umständen Deutschland dazu hergeben sollte, mit dieser Regierung Absprachen zu treffen, die letztendlich auch Israel und den Juden im Land schaden werden. Die Absprache mit der Türkei wird die Flüchtlinge nicht in der Türkei abhalten. Das kann man unterstreichen. Die Türkei bietet den Menschen keine Perspektive, zu bleiben. Also werden sie auch kommen, wenn die EU mit der Türkei Absprachen trifft. Deutschland sollte sich also gut überlegen, die Politik der AKP zu unterstützen.
Das Interview führte Daniel Hauser