domradio.de: "Ein Schlag ins Gesicht der Opfer" hieß es gestern in der Presse. Was glauben Sie, was geht gerade in den Köpfen der Betroffenen vor?
Dr. Uwe Rieske (Notfallseelsorger der Evangelischen Kirche im Rheinland): Viele reagieren mit Sicherheit betroffen, weil viele sich schon unmittelbar nach der Katastrophe erwartet haben, dass es irgendwann einmal einen Prozess geben würde, in dem Schuld und Verantwortlichkeit aufgespürt und auch benannt wird. Ein Vater eines der Opfer hat es mal gesagt: 'Ich weiß nicht, wie ein solcher Prozess ausgeht, aber ich möchte einmal die Verantwortlichen auf der Anklagebank sitzen sehen. Diesen Moment brauche ich, um das Gefühl von Gerechtigkeit in meinem Leben wiederherstellen zu können.'
domradio.de: Das heißt, das ist wirklich ein sehr wichtiger Punkt der Bewältigung, um damit abzuschließen?
Rieske: Für einige ja, für andere nicht. Andere haben von vornherein gesagt, ich verspreche mir von einer juristischen Aufarbeitung wenig und unser Angebot war es dann auch, die einen wie die anderen zusammenzuführen, damit sie sehen, dass es mehrere Wege der Bewältigung und des Umgangs mit dem Verlust von ganz geliebten Menschen gibt.
domradio.de: Wie kann man da ansonsten mit umgehen?
Rieske: Wir haben zum Beispiel bei dem Germanwings-Absturz erlebt, dass Menschen irgendwann sagen, es gibt ein Vermächtnis meines geliebten Menschen und ich möchte den Lebensimpuls, den er gelebt hat, der ihm wichtig war, in mein Leben integrieren, etwa indem ich eine Stiftung gründe, indem ich Ausstellungen eröffne, indem ich Dinge mache, von denen ich weiß, es wäre ihm oder ihr kostbar gewesen. Das sind andere Wege der Verarbeitung und des Umgangs mit Verlusten, die neben der Fokussierung auf die juristische Aufarbeitung auch ihren Platz haben können.
domradio.de: Sie haben viele dieser Menschen damals betreut. Am 24. Juli jährt sich die Katastrophe zum sechsten Mal und viele Betroffene müssen immer noch von der Notfallseelsorge begleitet werden. Wie sieht Trauerbewältigung sechs Jahre danach aus?
Rieske: Wir haben nach dem dritten Jahrestag die Begleitung abgegeben an die Notfallseelsorge Duisburg, die insbesondere zu den Jahrestagen am Unglücksort weiterhin Angebote gemacht hat. Dieser Unglücksort ist für viele Betroffene ein Ort geworden, der ihnen sehr wichtig ist. Viele sagen, ich fühle mich hier in Duisburg, an diesem Ort, meinen Lieben näher als an ihrem Grab.
Das Interview führte Verena Tröster.