Wenn Selina Ezikeil spricht, dann verzieht sie keine Miene. Manchmal starrt sie in die Ferne, manchmal zu Boden. Ihre Augen wirken leer und ausdruckslos. Sie weint nicht einmal mehr, wenn sie an das denkt, was ihrer Tochter Aisha vor zwei Jahren widerfahren ist. Diese gehört zu den 276 Mädchen, die in der Nacht zum 15. April 2014 von der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram entführt wurden.
"19 Jahre ist sie jetzt alt", sagt ihre Mutter. Sie spricht in der Gegenwart über Aisha. Das gibt ihr ein wenig Hoffnung, die Tochter doch noch lebendig in die Arme schließen zu können. Das ist Mutter Selinas größter Wunsch, wenn sie vor dem zerstörten Gebäude der Mädchenschule von Chibok über die Geschehnisse spricht.
Dort geschah vor zwei Jahren das Unglaubliche: Boko Haram drang offenbar problemlos in die Schlafsäle der Schule ein und brachte knapp 300 Mädchen und junge Frauen in ihre Gewalt. Einigen gelang zwar die Flucht, doch 219 befinden sich noch immer in den Händen der Miliz. Immer wieder gibt es in Nigeria Gerüchte darüber, wo sich die Mädchen aufhalten könnten. Tatsächlich fehlt von ihnen jede Spur.
Region schon lange vorher in der Hand von Boko Haram
Wer die Schule von Chibok besucht, versteht, wie leicht es in der Gegend ist, Menschen verschwinden zu lassen. Das Gelände ist Buschland und extrem weitläufig. Wirkungsvollen Schutz gab und gibt es nicht. Das beklagen auch die Eltern, als sie sich das erste Mal nach der Massenentführung wieder an der Schule treffen. Sie fragen sich, wo die Sicherheitsleute waren.
Wie war es überhaupt möglich, so viele Mädchen mehr oder weniger unbeaufsichtigt und fernab von großen Städten ihre Abschlussprüfungen schreiben zu lassen? Weshalb hat niemand sie beschützt? Warum sind unter den Opfern nur Kinder aus einfachen Familien, nicht aber beispielsweise von Lehrern und Verantwortlichen der Schule? All diese Fragen quälen auch Selina Ezekeil. "Egal, was ich mache: Ich werde meine Tochter niemals vergessen", sagt sie und schaut in die Ferne.
Dabei machte Boko Haram schon lange vor der Entführung die Region unsicher, bestätigt auch Peter Bulus. Er ist Pastor der Kirche "United Family Outreach International" und lebt in Yola, der Hauptstadt des im Süden angrenzenden Bundesstaates Adamawa. Seine Frau stammt aus der Nähe von Chibok. Schon im Jahr 2013, als die Heirat stattfand, wollten seine Verwandten nicht mit nach Borno kommen - der nigerianische Bundesstaat ist die Hochburg der 2002 gegründeten Terrormiliz. "Sie hatten einfach viel zu viel Angst." Weder er noch seine Frau waren in den vergangenen zwei Jahren vor Ort. Auch jetzt noch schaut er sich immer wieder um. In Sicherheit fühlt sich niemand.
Einige Eltern haben die Hoffnung aufgegeben
Immerhin gibt es bei dem Eltern-Treffen ein massives Militäraufgebot. Das liegt an Aisha Muhammed-Oyebode, der Leiterin der Murtala-Muhammed-Stiftung. Ihr Vater, General Murtala Muhammed, war von 1975 bis zu seiner Ermordung 1976 Militärherrscher in Nigeria. "Chibok bedeutet sehr viel für mich", sagt sie bei ihrem Besuch. Seit der Entführung hat sie immer wieder die Eltern der Mädchen getroffen. Sie gewährt ihnen finanzielle Hilfe. Auch die Gedenkveranstaltung, die für Donnerstag geplant ist, wird von der Stiftung unterstützt.
Chibok sei in Nigeria zum Synonym für den unglaublichen Verlust geworden. "Wir sind traurig", sagt Muhammed-Oyebode und fügt hinzu: Der Name stehe auch dafür, was sonst überall in Nigeria passiere. Neben den Mädchen von Chibok gibt es zahllose weitere Entführungsopfer. Manchmal regt sich deshalb Kritik, dass sich der Fokus zu sehr auf jenen entlegenen Ort richte.
Selina Ezekeils Tochter Aisha wurde von der Terrorgruppe Boko Haram ihre Jugend, vielleicht auch ihr ganzes Leben geraubt. Anders als einige andere Eltern will die Mutter die Hoffnung aber noch nicht ganz aufgeben. Auch deshalb ist sie zu dem schmerzhaften Treffen mit den anderen Müttern und Vätern gekommen. "Ich kann gar nicht sagen, warum es so ist. Aber ich bin doch noch hoffnungsvoll." Doch als sie das sagt, huscht kein einziges Mal ein Lächeln über ihr Gesicht.