"Es braucht Zeit, bis sich Fremdheit in Vertrautheit wandeln kann", gab Bundespräsident Joachim Gauck am Donnerstag auf dem Katholikentag in Leipzig zu bedenken. Der ehemalige protestantische Pastor fühlt sich offensichtlich sehr wohl unter Katholiken und macht auch keinen Hehl daraus. Besonders gut habe ihm gefallen, "den Heiligen Vater in deutscher Sprache zu hören", erinnerte er an die Eröffnungsveranstaltung vom Vortag auf dem überfüllten Marktplatz. In der nicht ganz so vollen Konzerthalle der Leipziger Arena ging es dann allerdings vor allem um die mehr oder weniger berechtigten Ängste derer, denen die Vertrautheit mit dem Fremden offenbar fehlt.
Dabei wies das Thema eigentlich in eine ganz andere Richtung: "In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Visionen eines realistischen Miteinanders". Das Podium auf der etwas überdimensionierten Bühne konnte aber nicht vom derzeitig "stürmischen Wellengang" in der gesellschaftspolitischen Debatte absehen - so das Bild von Moderatorin Jacqueline Boysen. Gauck, wie alle Podiumsteilnehmer in grünem Katholikentagsschal, wollte den "Sturm" allerdings nicht so recht erkennen, wohl aber den "Wellengang". Und dieser sei eher ein Weckruf nach dem Motto: "Auf, setz Dich ein für Deine Demokratie."
Gauck: Verständnis vor diejenigen, die sich vor Fremden ängstigen
Dabei wandte sich der Bundespräsident zugleich gegen alle, die Ängste politisch instrumentalisieren. Und er ließ keinen Zweifel daran, wen er damit meinte, nämlich jene, "die in Sachsen gegen Moscheen und Minarette demonstrieren" und Angst vor Überfremdung schüren, obgleich es dort kaum Migranten gebe: "Eine gewisse Hysterie arbeitet künstlich mit Ängsten", ohne dass hierfür ein wirklicher Sachverhalt vorliege.
Gauck warb dabei aber auch um Verständnis für jene, die sich vor allem Fremden ängstigten. Es brauche eben Zeit "bis sich Fremdheit in Vertrautheit wandeln kann". Hilfreich seien dabei vor allem konkrete Erfahrungen des gelungenen Miteinanders. «Aber diejenigen, die mit Ängsten ihr politisches Süppchen kochen, um Hetze zum Normalzustand zu erklären, von denen trennen wir uns gänzlich ab», bekräftigte der Bundespräsident unter lautem Beifall.
Caritasdirektorin: Flüchtlingskrise ein Geschenk Gottes
Überhaupt wirkte Gauck vor dem Hintergrund der weiterhin offenen Frage nach einer zweiten Amtszeit alles andere als amtsmüde - eher aufgeweckt bis kampfeslustig: Demokratie sei auch "Auseinandersetzung, Streit, Debatte". Diese Stimmung übertrug sich auf Podium und Publikum. Die Direktorin des Diözesan-Caritasverbandes Berlin, Ulrike Kostka, mahnte zu mehr Zuversicht. Die Deutschen brauchten offenbar eine "gewisse Dramaqualität". Dies könne zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden, warnte sie. "Wir müssen endlich die Generaldepression überwinden!"
Das gelte auch für die Sorge vor einer Überalterung der Gesellschaft: "Wir sind auch oft alt, aber auch alte Menschen können eine Menge", sagte sie und erntete leicht betroffenes Gelächter aus dem Publikum. In diesem Sinne sei die Flüchtlingskrise "Geschenk Gottes", so die Caritasdirektorin. Durch die Schutzsuchenden hätten viele Menschen wieder für sich entdeckt: "Ich krieg was hin, und ich will mich engagieren."
Gauck: Politik muss "erden"
Trotz mancher Vision mahnte das Podium aber vor allem zu mehr Realismus - zumindest in der Politik, die nach den Worten Gaucks Visionen "erden" müsse. Der Berliner Politikwissenschaftler Ahmet Cavuldak sah sogar in der Sehnsucht nach einer falschen Harmonie und einer möglichst konfliktfreien Gesellschaft einen Grund für Politikverdrossenheit.
Wie sich Vision und Realismus in der Kunst verbinden lässt, veranschaulichte das Ensemble "Trimum", das die Veranstaltung musikalisch umrahmte. Die Musikgruppe aus Juden, Christen und Muslimen sang zum Auftakt mit dem Publikum die Vertonung des Psalmentextes: "Seht wie schön und lieblich, wenn Brüder und Schwestern einträchtig beisammen sind." Die Gruppe ist Teil eines interreligiösen Gemeinschaftsprojekts von Kantoren, Theologen und Wissenschaftlern, die nach einer "Musik des Trialogs" suchen.