Als "Extremist in Sachen Nächstenliebe" wurde er charakterisiert. "Radikal leben" hieß sein letztes Buch, in dem Rupert Neudeck eine Bilanz seines Lebens als Journalist und humanitärer Helfer zog. Widerstand, radikales Umdenken und mutiges Eingreifen seien lebensnotwendig - für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen, schrieb er. Am Dienstag ist der Mitbegründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme im Alter von 77 Jahren gestorben - nach einer Herzoperation.
Es war ein rastloses Leben für Flüchtlinge. Wobei er auch Forderungen an sie stellte: Flüchtlinge in Deutschland müssten von Anfang an dazu angehalten werden, in ihren Unterkünften "die Arbeiten zu tun, die dort notwendig sind", sagte. Ebenfalls sollten Deutschkurse nicht Angebotscharakter haben, sondern verpflichtend sein.
"Den Menschen etwas zurückgeben"
"Es ist vernünftig und schön, etwas radikal anzugehen im Leben", sagte der Mozart-Liebhaber. Dabei läge es durchaus nahe, den ehemaligen Redakteur des Deutschlandfunks mit einem tragischen Helden zu vergleichen. In vielen Krisengebieten waren er und seine Mitarbeiter als humanitäre Feuerwehr tätig. Eben noch in Syrien, dann schon wieder in Afghanistan, Nordafrika, Haiti. "Unsere Arbeit hat wenig mit Erfolg zu tun. Viel häufiger erleben wir Scheitern", räumte er ein.
Warum er die Kraft aufbrachte? Er empfinde es als großes Geschenk, in einer so freien Gesellschaft zu leben, sagte er. Da wolle er etwas an Menschen zurückzugeben, denen es schlechter gehe. Und da ist die religiöse Begründung: "Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter reicht aus", sagte der Katholik. "Diese Geschichte tritt mir immer wieder in den Bauch: Du bist zuständig für die Not anderer Menschen. Jetzt, sofort."
Vom Theologiestudium zu den Jesuiten
In Neudecks Leben waren Schiffe wichtig. Da war die von sowjetischen Torpedos versenkte "Wilhelm Gustloff", die der Fünfjährige gemeinsam mit seiner Mutter auf der Flucht im kalten Januar 1945 um wenige Stunden verpasste. Das rettete ihm das Leben. Und da war die "Cap Anamur", mit der Neudeck und sein Team 1979 - vor allem auch seine Frau Christel - mehr als 11.000 vietnamesische Flüchtlinge aus dem chinesischen Meer retteten und nach Deutschland brachten. Sie sind - das war Neudecks ganzer Stolz - wunderbar integriert.
Mut und eine Portion Sturheit zeichnen ihn aus: Beim Theologiestudium in Paderborn schreckte ihn das Priesterseminar mit "rührseligen und versponnenen Gebets- und Gottesdienstübungen" ab. Stattdessen wählte er "eine radikale Gruppe", die Jesuiten, die "Sturmtruppe des Papstes". Buß- und Fastenübungen hätten ihn fast krank gemacht, berichtet er. Schließlich verließ er den Orden, heiratete, studierte Philosophie, Germanistik und Soziologie und promovierte
Gemeinsame Arbeit mit Ehefrau Christel
2002 verließ Neudeck die Leitung der Hilfsorganisation Cap Anamur. Kurze Zeit später hob er die "Grünhelme" mit aus der Taufe. Junge Muslime, Christen und Andersgläubige arbeiten beim Wiederaufbau in Krisengebieten zusammen und lernen dabei viel übereinander.
Immer wieder rieben sich Neudeck und seine Frau Christel, die die Arbeit vom Reihenhaus in Troisdorf aus koordinierte und ohne die "all dies nicht möglich war", an diplomatischen Gepflogenheiten, dem Prestigedenken von Politikern sowie den Ansprüchen der etablierten Hilfswerke und UN-Organisationen. Entscheidend für die Hilfe sei es, das Leben mit den in Not Geratenen zu teilen.
Kritik an Politik und Kirche
Zuletzt ist Neudeck auch als Kritiker der Entwicklungspolitik in Erscheinung getreten. Gerade in Afrika seien viele Länder von Entwicklungshilfe abhängig geworden, betont er. Entwicklungszusammenarbeit solle so weit wie möglich zu den Nichtregierungsorganisationen verlagert werden.
Kritik übte der Katholik auch an seiner Kirche: Es müsse Schluss sein mit einem Glauben, der an der Wirklichkeit der Menschen vorbei gehe. Er wünsche sich weniger Sorge um Kirchbauten, "weniger Weihrauch und Selbstbeschäftigung, dafür mehr Telefonseelsorge und konkrete Hilfe für Menschen in Not". Großen Eindruck hat Papst Franziskus auf ihn gemacht. Franziskus' Appell gegen eine "Globalisierung der Gleichgültigkeit - das ist genau das, was die Welt braucht".