Unmittelbar vor der Abstimmung am Donnerstag äußern sich die beiden großen Kirchen zwar "contra Brexit". Eine offizielle Position gibt es aber nicht. Auslandspfarrer Lincoln sagte: "Europa ist ein guter Sündenbock." Teile des Landes erschienen "national, populistisch und ohne Verständnis für das europäische Projekt". Für differenzierte Argumente sei in der Diskussion um den "Brexit" schon lange kein Platz mehr. Sie zwinge alle in ein einfaches Schema von Ja und Nein.
"Derzeit zeigt sich Großbritannien so, wie ich es bisher nicht gekannt habe", fügte der Theologe hinzu. Gleichwohl habe sich die Art der Diskussion nach dem Mord an der Politikerin Jo Cox in der vergangenen Woche verändert. "Die Rechtspopulisten sind etwas leiser und vorsichtiger geworden", sagte der Pfarrer. Die Abgeordnete der Labour-Partei und Gegnerin eines EU-Austritts war in der nordenglischen Grafschaft Yorkshire auf offener Straße niedergestochen und erschossen worden.
Sorgen vor Abstimmung
Lincoln sagte, die Mitglieder in der deutschsprachigen Kirchengemeinde machten sich Sorgen vor der Abstimmung. Sie fühlten sich sehr viel weniger willkommen im Land. Einige fürchteten auch um ihren Aufenthaltstitel und ihre Arbeitserlaubnis. Lincoln betreut seit 2010 im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Gemeinde in der britischen Hauptstadt. Im August wechselt er als Propst ins niedersächsische Vorsfelde bei Wolfsburg.
Er übte deutliche Kritik an der anglikanischen Kirche, die sich bisher neutral verhalten hat: "Ich empfinde das als eine erschreckende Sprachlosigkeit." Erst in den vergangenen Tagen hätten Kirchenvertreter Kritik an Inhalten und Formen der Debatte geäußert.
Welby und Nichols gegen Brexit
Der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, hat angekündigt, gegen den "Brexit" zu stimmen. Die Gemeinschaft der europäischen Staaten habe seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg die soziale Sicherheit und das menschliche Miteinander auf dem Kontinent gestärkt, argumentierte er. Bei ihrer Entscheidung, ob das Königreich weiter Mitglied der Europäischen Union bleiben soll, sollten sich die Briten an dem Idealismus der Gründerväter der EU orientieren. "Jesus hat uns gelehrt, unsere Nachbarn zu lieben", erklärte Welby.
Der ranghöchste katholische Bischof der Insel, Kardinal Vincent Nichols von Westminster, warnte, ein Austritt Großbritanniens würde das Land vor "komplexere Probleme stellen als ein Verbleib in der EU". Es gebe in der katholischen Kirche eine starke Tradition der Überzeugung, dass "den Weg der Spaltung zu begehen fast unweigerlich zu weiteren Spaltungen führen muss". Der "katholische Instinkt" sei, "das Ganze im Blick zu haben". Das sei auch die Bedeutung des griechischen Wortes "katholisch", nämlich "allumfassend". Nichols betonte jedoch, dass das seine persönliche Meinung sei und keine offizielle Kirchenposition.
Der Bischof von Southwark und stellvertretende Vorsitzender der Bischofskonferenz, Peter Smith, hingegen hatte in einem Interview mit Radio Vatikan den Schatzkanzler George Osborne scharf kritisiert und ihm Panikmache vorgeworfen, was einen möglichen "Brexit" angeht. Der Kampf um einen Zusammenhalt zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten dürfe nicht der legitimen Souveränität der einzelnen Staaten zum Opfer fallen, sagte er. Der Verlust britischer Souveränität sei "hart zu schlucken".
Prüfsteine und Wahlempfehlung
Die katholischen Bischöfe von England und Wales gaben zwar keine Wahlempfehlung, aber Prüfsteine für eine überlegte Entscheidung. Darin heißt es, das Votum werde "Auswirkungen auf die künftigen Generationen haben, und zwar nicht nur für das Vereinigte Königreich, sondern auch für ganz Europa und die Welt". Entsprechend hoch sei die Verantwortung der Wähler.
Auch die Generalversammlung der presbyterianischen Kirche von Schottland sprach sich mit großer Mehrheit für einen Verbleib Großbritanniens in der EU aus - schon zum fünften Mal in den vergangenen 20 Jahren. "Wir sehen, dass es nicht perfekt ist - aber die EU ist gerade dabei, sich zu entwickeln. Sie ist noch kein fertiges Produkt", so eine Sprecherin. Der einzige Weg, weiter Teil dieser Transformation sein zu können, sei, in der EU zu bleiben.