domradio.de: Sie hatten bis zuletzt gehofft, dass Großbritannien in der EU bleibt. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie erfahren haben, dass es nun doch anders kommt?
Dr. Johannes Arens (Anglikanischer Domkapitular am Dom von Leicester): Ich war heute Morgen sehr schockiert, als ich die Ergebnisse gehört habe. Und ich bin es immer noch. Ich stehe sehr früh auf, und da zeichnete sich das Votum bereits ab. In meinem Umkreis hat das eigentlich niemand erwartet. Das zeigt mir auch, dass ich in ziemlich behüteten Verhältnissen lebe - auch als Priester einer Innenstadtkirche. Mir ist aufgefallen, dass ich fast nur Leute kenne, die gegen den Brexit gestimmt haben. Wenn man sich die Statistiken anschaut, wo und wer dagegen gestimmt hat, gibt es eine deutliche Abstufung, was das Alter, den Bildungsstand und das Einkommen der Wähler angeht. Es sind die kleinen Leute, die hauptsächlich für einen EU-Austritt gestimmt haben, die sich von den großen politischen Parteien verraten fühlen. Das ist insgesamt sehr schade.
domradio.de: Das Lager der Brexit-Befürworter hatte im Wahlkampf vor allem auch die Angst vor Zuwanderern geschürt. Das Ganze war zum Teil grenzwertig geschmacklos bis rassistisch angehaucht. Inwieweit sind Sie als deutscher EU-Bürger denn jetzt auch persönlich betroffen?
Arens: Ich fühle mich davon sehr betroffen und fand mich als EU-Bürger, der hier seit vielen Jahren arbeitet und Steuern zahlt, auch persönlich angegriffen. Gerade Plakate, die sagen, dass soundso viel Millionen EU-Bürger die Briten die Jobs wegnehmen wollen, schießen weit über das Ziel hinaus. Über die zig Millionen Briten, die wiederum in Europa leben, redete in der Kampagne keiner. Mir wurde immer gesagt, um Leute wie mich würde es auch überhaupt nicht gehen. Wenn man nachbohrt, dann geht es häufig um Leute, die anders aussehen oder Leute, die eine andere Religion haben. Das schlimmste an der ganzen Debatte ist eigentlich die Tatsache, dass eine Fremdenfeindlichkeit damit wieder salonfähig geworden ist und dass auch das Niveau der politischen Diskussion massiv abgesunken ist. Alle großen Parteien haben sich schließlich gegen den Brexit ausgesprochen. Ich bin von der Debatte und dem Ergebnis sehr enttäuscht.
domradio.de: Der Vorsitzende der Konferenz Europäischer Kirchen, der anglikanische Bischof Christopher Hill, bedauert den Austritt ebenfalls und sagt, dass Großbritanniens Kirchen auf jeden Fall in der Konferenz der europäischen Kirchen Mitglied bleiben. Wie ist das denn jetzt bei Ihnen? Sie arbeiten als deutscher EU-Bürger an der Kathedrale von Leicester. Was wird sich für Ihre persönliche Lebens- und Arbeitswirklichkeit durch den Austritt aus der EU ändern?
Arens: Im Moment ist es ja noch völlig unklar, was das bedeutet. Es gibt einen ganzen Fächer von Möglichkeiten, was jetzt kommen kann: vielleicht ein norwegisches Modell oder eine grönländische Lösung mit freiem Markt, Mitgliedschaft aber ohne Stimmrecht. Es kann auch das Modell der Schweiz infrage kommen oder auch, dass man gänzlich austritt - eben auch aus dem Binnenmarkt. Das wäre der extremste Weg, der auch meinen Einwanderungsstatus beeinträchtigen würde, auch wenn ich hier schon seit 16 Jahren lebe. Gleichzeitig würde sich dann auch der Status von Millionen anderer Menschen hier in Großbritannien, aber auch von Millionen britischen Bürgern im europäischen Ausland ändern. Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass es soweit kommt.
Welche der Möglichkeiten jetzt Realität wird, ist völlig unklar. Das war auch in der ganzen Kampagne vollkommen unklar. Wofür hat man denn da eigentlich gestimmt? Das weiß keiner so richtig. Der Premierminister hat nun seinen Rücktritt bekanntgegeben und im Moment zeichnet sich eigentlich auch keine Führungsfigur ab. Die drei Politiker, die für den EU-Austritt Kampagnen initiert haben, Boris Johnson, Michael Gove und Nigel Farage sind in den Augen einer überwiegenden Mehrheit der Briten nicht in der Lage, das Land zu führen. Es ist eine ähnliche Vorstellung, als wenn die AfD von jetzt auf gleich in Deutschland den Kanzler oder die Kanzlerin stellen sollte.
domradio.de: Die Börsen rutschen ab, und was mit der Wirtschaft Großbritanniens passiert, ist nicht abzusehen. Inwieweit, glauben Sie, werden auch die Kirchen betroffen sein?
Arens: Alle Kirchen in Großbritannien sind ja ausschließlich von Spenden abhängig. Wir haben hier keine Kirchensteuern. Das heißt, die wirtschaftliche Lage hat einen direkten Einfluss auf unsere Finanzen. Die Wirtschaftskrise von vor ein paar Jahren ist in Großbritannien auch noch nicht gänzlich überwunden. Wir sammeln von unserer Kirche aus Lebensmittel und geben sie an Leute weiter, die sich den Einkauf in Supermärkten nicht mehr leisten können. Das ist seit der Wirtschaftskrise so und das hat sich seitdem auch nicht verändert. Die Zahl der Leute, die hier arm sind, ist doch sehr groß. Die soziale Schere geht sehr viel weiter auseinander als in Deutschland, und ich habe die Befürchtung, dass sich diese Situation durch den Brexit nur noch weiter verschärfen wird, weil die wirtschaftliche Lage Großbritanniens sicherlich darunter weiter leiden wird. Das war keine rationale, sondern eine rein gefühlsmäßige Abstimmung.
Das Interview führte Hilde Regeniter.