Entsetzt, aber nicht überrascht: So lässt sich die Stimmung nach dem Axt-Angriff von Würzburg beschreiben. Es sei, so ist allerorten zu hören, nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Anhänger der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) auch auf deutschem Boden Zivilisten angreifen. Experten haben auch die Art des Angriffs erwartet.
IS versucht Einzeltäter zu inspirieren
Der IS versuche seit zwei Jahren, sogenannte Einzeltäter zu inspirieren, erklärte der Londoner Terrorismusforscher Peter Neumann am Mittwoch im ZDF-Morgenmagazin. Anhänger erhielten von den Terroristen gewissermaßen die "Lizenz", deren Marke zu benutzen. Sie signalisierten: "Ihr könnt tun, was ihr wollt, und wir nehmen es in Anspruch." Die beiden jüngsten Anschlagsarten - Angriffe mit Messern oder Fahrzeugen wie in Nizza - würden genauso empfohlen, hatte Neumann tags zuvor im ARD-"Brennpunkt" gesagt.
"Wirklich überraschend" sei dagegen die scheinbar blitzartige Radikalisierung des Würzburger Täters, so der Wissenschaftler weiter. Er habe stets die Position vertreten, dass niemand über Nacht zum Terroristen werde. In diesem Fall scheine es jedoch "mehr oder weniger so gewesen zu sein".
Vorsicht bei Begriffen wie "Turbo-Radikalisierung"
Der Berliner Psychologe Kazim Erdogan rät zur Vorsicht bei Begriffen wie "Turbo-Radikalisierung". "Es gab schon Fälle vor dem Axt-Angriff in Würzburg, in denen Menschen innerhalb von 30 Minuten eine Waffe besorgt und ihren Partner umgebracht haben", sagte der Leiter des Vereins "Aufbruch Neukölln" der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Ähnlich sieht es der israelisch-arabische Psychologe und Autor Ahmad Mansour. Die IS-Ideologie hänge eng zusammen mit Einstellungen, Denkmustern und Werten, "die dieser junge Mann und andere eigentlich schon in der Erziehung mitbekommen haben", sagte er im Deutschlandfunk. Krisen könnten dann zu weiterer Radikalisierung führen, so Mansour, der unter anderem im Berliner Heroes-Projekt mit jungen Muslimen arbeitet.
Kaum mit Terroristen vernetzt
Schon beim Todesschützen von Orlando schrieben US-Medien von "homemade terrorism", quasi "selbstgebasteltem" Terrorismus. Der Attentäter, der im Juni in einem queeren Nachtclub 49 Menschen getötet hatte, soll einen Eid auf den IS geschworen haben. Ähnlich wie die Täter von Nizza und Würzburg war er aber offenbar kaum mit den Terroristen vernetzt.
Ein "Riesenproblem", sagt der Kriminologe Christian Pfeiffer: umso mehr drohe die Gefahr von Wiederholungstaten. "Wir haben es hier ja mit jungen Männern zu tun, die entwurzelt sind und auch noch nicht richtig integriert", sagte er der "Rheinischen Post" am Dienstag. Bekanntheit nach einer Wahnsinnstat könne für manche Menschen verlockend sein.
Verlierer eines "nihilistischen Zeitalters"
Mit diesem Phänomen befasst sich der italienische Philosoph Franco Beradi in seinem Buch "Helden. Über Massenmord und Suizid". Taten wie das Columbine-Massaker 1999 in den USA oder der Absturz der Germanwings-Maschine im vergangenen Jahr hätten sich tief in das Gedächtnis eingebrannt, schreibt er. Die Täter seien die Verlierer eines "nihilistischen Zeitalters".
In Deutschland fordern CDU und CSU seit langem, Sympathiewerbung für Terrorvereinigungen unter Strafe zu stellen. Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Stephan Harbarth, erneuerte die Forderung nun. Über das Internet verbreite sich diese Propaganda rasant, warnte er, und gerade junge Menschen seien anfällig dafür. Die Terroristen nutzen zudem immer stärker soziale Medien wie das Chatprogramm WhatsApp, die nur schwer zu kontrollieren sind.
Gefahr von Nachahmungstätern wächst
Die Gefahr von Nachahmungstätern "wächst und wird wachsen", meint Integrationsexperte Erdogan. Bei Suiziden warnen Experten regelmäßig vor dem sogenannten Werther-Effekt: Konkrete Details oder Spekulationen über Suizidmittel und Beweggründe könnten weitere Suizide befördern. Umgekehrt gibt es den Papageno-Effekt, nach dem Berichte über neu geschöpften Lebensmut andere Menschen ermutigen können.
Ein mögliches Vorbild für die Integrations- und Islamdebatte? Zunächst gilt wohl die düster-sachliche Einschätzung von Kazim Erdogan: Gegen manches, was "in einem Menschen vorgehen kann, sind wir alle machtlos".