Caritas-Experte zu minderjährigen Flüchtlingen

"Nicht schon am Anfang sparen"

Nach dem Axt-Anschlag in einem Würzburger Regionalzug wird über den Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen diskutiert. Der Würzburger Sozialpädagoge Andreas Halbig warnt vor einer Absenkung von Betreuungsstandards.

Diskussion über Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen / © Daniel Karmann (dpa)
Diskussion über Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen / © Daniel Karmann ( dpa )

KNA: Der Attentäter aus dem Zug ist als unbegleiteter minderjähriger und angeblich aus Afghanistan stammender Flüchtling im Sommer 2015 nach Deutschland gekommen. Inzwischen zweifeln die Ermittler an dieser Identität. Haben Sie bei Ihren Schützlingen auch schon solche Überraschungen erlebt?

Andreas Halbig (Sozialpädagoge und geschäftsführender Direktor der Caritas-Don Bosco gGmbH): Nur in wenigen Ausnahmefällen. Grund ist, dass es je nach Herkunftsland unterschiedliche Bleiberechte gibt. Da kann es sein, dass jemand ein Land angibt, aus dem er nicht kommt, in der Hoffnung, einen besseren Aufenthaltsstatus in Deutschland zu erreichen. In der Regel haben die jungen Menschen keine Papiere dabei, so sind wir auf ihre Angaben angewiesen.

KNA: Kommt es öfter vor, dass sich bei Ihren Schützlingen herausstellt, dass sie gar nicht mehr minderjährig sind?

Halbig: Das kommt vor, ist aber nicht die Regel. Die Schleuser schärfen ihnen fiktive Geburtsdaten und Herkunftsregionen ein. In Einzelfällen veranlasst das Jugendamt eine medizinische Überprüfung.

KNA: Polizeigewerkschafter halten junge Flüchtlinge für besonders anfällig für Radikalisierung und auch für Kriminalität. Können Sie das bestätigen?

Halbig: Nein. Wir hatten ja schon viele in unseren Einrichtungen. Die allermeisten sind nur bestrebt, ihre Zukunft zu gestalten, in Sicherheit zu leben und möglichst schnell Geld nach Hause zu den Familien zu senden. Problematisch wird es tatsächlich, wenn die jungen Leute unter einer gewissen Perspektivlosigkeit leiden. Dann werden sie offen für radikales Gedankengut. Das sind aber eigentlich nur Einzelfälle.

KNA: Werden sie dann gezielt von anderen Personen angeworben, oder läuft das alles über soziale Medien?

Halbig: Teilnehmer aus unseren Häusern haben schon zurückgemeldet, dass sie angesprochen werden. Das geht persönlich über einen Bekannten eines Bekannten oder über soziale Medien.

KNA: Wie gehen Sie damit um?

Halbig: Unsere Sozialarbeiter sprechen das an, versuchen mit den jungen Leuten zu durchdenken, was das heißt, wenn sie diesen Weg mitgehen würden. Ganz wichtig ist immer, Alternativen aufzuzeigen. Je klarer ihre Perspektiven in Deutschland, desto besser sind sie gegen eine Ansprache durch Extremisten gewappnet. Und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer Radikalisierung. Wichtig ist ein interkultureller und interreligiöser Austausch. Um sich anpassen zu können, müssen die jungen Leute unsere Gepflogenheiten verstehen und letztlich akzeptieren. Unsere Pädagogik geht auf Don Bosco zurück.

Unsere Mitarbeiter sind Assistenten der jungen Menschen in ihrem Eingliederungsprozess. Durch unseren Präventionsansatz versuchen wir, den Jugendlichen alternative Verhaltensmuster aufzuzeigen und Perspektiven durch berufliche Bildung zu eröffnen.

KNA: Der Attentäter von Würzburg hatte eine Bleibeperspektive und war kurz vor Abschluss eines Lehrvertrags.

Halbig: Das ist richtig. Aber letztlich war es auch jemand, der Flucht erlebt hat. Wir wissen nicht, was in seinem Kopf vor sich ging.

KNA: Bisher gehen die Ermittler davon aus, dass sich der junge Mann in kürzester Zeit selbst radikalisiert hat, während er bei einer Pflegefamilie untergebracht war. Würde Ihren Mitarbeitern so etwas auffallen?

Halbig: Wir sind schon der Meinung, dass wir unsere Jugendlichen mit der Zeit immer besser kennenlernen, nahe an ihnen dran sind und sie auch einschätzen können. Ob wir es stets bemerken würden, dass sich einer aufhetzen lässt? Da gibt es sicher keine Garantie.

KNA: Sind Pflegefamilien die richtige Form der Unterbringung?

Halbig: Wir empfehlen das nur in Ausnahmefällen. Das System der Pflegefamilie kann sehr schnell an seine Grenzen kommen und ist dann überfordert - mit problematischen Folgen für die Familie selbst und die jungen Menschen in ihrer Obhut.

KNA: Der Bundesfachverband für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge warnt vor einem Generalverdacht und kritisiert, dass gerade Bayern im Bund auf eine Absenkung der Betreuungsstandards für diese Zielgruppe drängt. Stimmt das?

Halbig: Das ist immer wieder im Gespräch, wäre aber kontraproduktiv.

Solche Vorfälle wie der vom Montag zeigen, dass man besser genauer hinschaut und gerade bei den jungen Flüchtlingen nicht aus Kostengründen die Standards senkt. Im alten Clearingverfahren wurden sie bis zu vier Monate von Fachleuten begleitet, heute sind es nur noch vier Wochen. Was man da am Anfang spart, kommt uns am Ende womöglich teuer zu stehen. Damit meine ich gar nicht nur Amokläufe wie jetzt den in Würzburg. Aber wir müssen einfach sehen, dass die meisten dieser jungen Menschen wohl in Deutschland bleiben werden.

Die Flüchtlinge verlassen selbst auf Aufforderung nicht einfach unser Land und lassen sich schon gar nicht in ihre Herkunftsländer abschieben. Die jungen Leute tauchen lieber ab und verschwinden vom Radar unserer Behörden.

KNA: Jemand flieht vor den Folgen des Radikalismus in seiner Heimat und wird in Deutschland wieder dafür anfällig - wie passt das zusammen?

Halbig: Das klingt zunächst paradox. Aber man darf nicht vergessen: Die jungen Menschen sind oft noch im Fluchtmodus, traumatisiert durch Erlebnisse daheim, auf der Flucht oder auch bei der Unterbringung hier in Deutschland. Gerade in großen Sammelunterkünften ist es zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur rau zugegangen. Wer so etwas erlebt hat, reagiert anders als einer, der solche Erfahrungen nicht hat. Ein anderes Problem ist, wenn der Bleibestatus der jungen Leute zu lange ungeklärt bleibt. Das macht mürbe und vielleicht auch anfällig für Radikalismus und Gewalt.

Das Interview führte Christoph Renzikowski.


Quelle:
KNA