domradio.de: Mit welchen Fragen werden Sie nach diesem schlimmen Vorfall in Würzburg konfrontiert?
Pastorin Dietlind Jochims (Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche, Adoptivmutter eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings aus Afghanistan): Es geht ganz viel um Angst. Viele Leute auch aus dem Freundeskreis fragen mich, wie wir damit umgehen und ob ich mir sicher sein kann, dass der Jugendliche, den wir aufgenommen haben, nicht auch zu so einer Tat fähig wäre. Mein Adoptivsohn hat Angst davor, in eine Art Kollektivhaft genommen zu werden, für etwas, was ein ihm völlig unbekannter Jugendlicher an einer ganz anderen Stelle in Deutschland getan hat.
domradio.de: Wie gehen Sie mit dieser Angst um?
Jochims: Wir reden sehr viel darüber. Ich hoffe immer noch unvermindert darauf, dass es genügend Menschen gibt, die nicht pauschal verurteilen, die sich individuell mit einzelnen Menschen auseinandersetzen.
domradio.de: Sie haben Ihren jetzigen Adoptivsohn Sharif aus Afghanistan vor zwei Jahren bei sich aufgenommen. Was waren bislang die größten Herausforderungen?
Jochims: Ich habe unterschätzt, wie lange es dauert, bis jemand mit seinen traumatischen Erlebnissen einigermaßen zu Rande kommt. Und wie lange es tatsächlich dauert, bis jemand hier ankommt, wie lange das Asylverfahren dauert und wie lange die Angst davor, wieder abgeschoben zu werden, anhält.
domradio.de: Die Flucht ist gerade für minderjährige Flüchtlinge ein schlimmes, traumatisches Erlebnis. Dazu kommen oftmals die Bilder des Krieges aus den Herkunftsländern. Wie können die Flüchtlinge dies bewältigen? Welche Erfahrungen haben sie da mit ihrem Adoptivsohn gemacht?
Jochims: Wir haben das große Glück, eine phantastische Therapeutin gefunden zu haben. Hilfreich sind auch Kontakte mit kleineren Kindern, denn die sind gute intuitive Therapeuten. Ansonsten muss man immer genau hinschauen und reden, reden, reden. Am Anfang mit Händen und Füße und Bildern und Wörterbüchern. Das Deutsche kam dann allmählich.
domradio.de: Viele Menschen sehen in dem völlig unterschiedlichen kulturellen Hintergrund vieler Flüchtlinge aus arabischen Ländern ein Problem. So ist es in vielen Ländern dort so, dass sich Männer und Frauen nicht auf Augenhöhe begegnen. Wie hat sich das eingespielt?
Jochims: Das war oft Thema: Was dürfen Männer und Frauen hier? Was ist in Ordnung, was nicht? Mein Adoptivsohn hat immer gesagt, Afghanistan sei das schlechteste Land der Welt für Frauen. Aber natürlich ist er in diesem Land auch aufgewachsen bis er 13 Jahre alt war. Das hat ihn geprägt. Da wundert er sich bei manchen Dingen noch, aber er genießt die Freiheit hier, die alle Menschen haben. Er muss sich nur manchmal noch daran gewöhnen.
domradio.de: Warum haben Sie den Schritt der Adoption gemacht?
Jochims: Er war erst mein Pflegekind und dann war es ganz logischer Schritt für uns. Meine Familie mag ihn sehr und hat ihn sehr selbstverständlich als Familienmitglied akzeptiert. Und für ihn hat es die Sicherheit gebracht, auf die er sonst noch hätte warten müssen. Durch die Adoption hat er die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten und das Asylverfahren war beendet.
domradio.de: Hat ihr Verhalten vielleicht Vorbildcharakter?
Jochims: Vielleicht sehen Menschen, dass es geht und dass nichts Schlimmes passiert. Es ist ein Zusammenleben mit einem Teenager, das sich in manchem gar nicht so sehr unterscheidet von dem mit anderen Teenagern. Und es gibt viel zu entdecken und zu lernen.
domradio.de: Wenn jetzt Familien, die minderjährige Flüchtlinge aufnehmen wollen, Angst haben und lieber von diesem Gedanken Abstand nehmen. Was würden Sie empfehlen?
Jochims: Es gibt ja in vielen Städten mittlerweile Schulungen für Pflegefamilien. Da ist so etwas natürlich auch Thema. Ängste kann man nur verstehen und abbauen, wenn man über sie redet. Man darf sich nicht von kollektiven Ängsten beeindrucken lassen. Jeder Mensch ist ein Einzelner.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.