domradio.de: Wie schätzen Sie das ein, wurde Dilma Roussef zu Unrecht suspendiert?
Norbert Bolte (Brasilienreferent beim katholischen Lateinamerikahilfswerk Adveniat): In Brasilien haben wir es mit einer präsidentiellen Demokratie zu tun. Dort wird die Präsidentin oder der Präsident vom Volk gewählt. Und jetzt hat ein Verfahren stattgefunden im Senat und im Abgeordnetenhaus, das diese Präsidentin aus dem Amt geholt hat. Dieses Amtsenthebungsverfahren setzt aber voraus, dass der Person, der Präsidentin in diesem Fall, ein schuldhafter Gesetzesverstoß nachgewiesen wurde.
Die Beratungen und die Abstimmungen im Abgeordnetenhaus und dem Senat haben nach unserer Einschätzung ergeben, dass dieser Nachweis nicht geliefert werden konnte. Ihr konnte also ein schuldhaftes Versagen als Präsidentin nicht nachgewiesen werden. So ist es durchaus verständlich, wenn viele unserer Adveniat-Projektpartner in Brasilien von einem parlamentarischen Staatsstreich sprechen.
domradio.de: Dafür spricht ja auch, dass Dilma Roussefs Nachfolger Michel Temer als Vize-Präsident all das mitgetragen hat, was Roussef jetzt vorgeworfen wurde. Hat die Senatoren dieser eklatante Widerspruch nicht gestört?
Bolte: Dazu muss man wissen, dass Temer zunächst als Koalitionspartner Verbündeter der künftigen Ex-Präsidentin war. Als solcher hat er ihre Politik einige Zeit lang mitgetragen. Gleichzeitig haben aber bereits andere Prozesse stattgefunden. Ein enger Parteifreund Temers war Parlamentspräsident und hat mit seiner politischen Agenda massiv dazu beigetragen, dass diese Präsidentin abgesetzt wurde. Dieser Parlamentspräsident hat Ende 2015 das Amtsenthebungsverfahren in Gang gesetzt, obwohl er zur damaligen Regierungskoalition gehörte.
domradio.de: Was bedeutet der Senatsentscheid nun? Welche Kräfte im Land haben sich da durchgesetzt und was wird sich nun verändern?
Bolte: Ganz sicher müssen wir damit rechnen, dass eine Politik, die die Regierung in den vergangen 13, 14 Jahren zugunsten breiter Teile der Bevölkerung gemacht hat, also zugunsten des Allgemeinwohls, in den nächsten Jahren zurücktreten wird. Ich fürchte, die Wirtschaftskrise wird sich verstärken, die Sozialpolitik wird zurückgefahren. Wir müssen außerdem mit einer starken Polarisierung innerhalb des politischen Spektrums rechnen.
Die ohnehin schon vorhandene Spaltung der Gesellschaft wird vermutlich noch weiter vorangetrieben. Wir müssen auch fürchten, dass die Korruption weiter zunimmt. Denn gerade diese Kräfte, die jetzt wieder an die Macht gekommen sind, hatten eigentlich seit der Kolonialzeit Brasiliens immer das Sagen. Sie mussten eine Pause machen, weil die Bürger das so wollten und mit Ignacio Silva da Lula und Dilma Roussef zwei Vertreter der Arbeiterpartei ins Präsidentenamt wählten. Das sind unsere Befürchtungen, die wir haben.
domradio.de: Das heißt, Sie sehen da im Moment auch keine Politiker mit reiner Weste, die das Land in die richtige Richtung führen könnten?
Bolte: Doch, die gibt es ganz sicherlich. Und dessen sind sich auch viele Wähler in Brasilien bewusst. Ob sich das dann unmittelbar im Parlament widerspiegelt, in das die Abgeordneten gewählt werden und wie in diesem Jahr auch die Bürgermeister gewählt werden, das steht noch in den Sternen. Dabei spielen auch andere Dinge eine Rolle, nicht zuletzt das Geld, die Korruption, die hier leider weiter voranschreitet. Allerdings habe ich die leise Hoffnung, dass im Kontext dieser Diskussion um die Amtsenthebung und auch im Kontext der Demonstrationen, die es gegeben hat, auch so etwas wie eine stärkere Politisierung vieler Brasilianerinnen und Brasilianer stattgefunden hat.
domradio.de: Was bedeutet dieses politische Scharmützel jetzt für die Arbeit von Adveniat?
Bolte: Diese Arbeit wird mit Sicherheit nicht leichter werden. Die Projektpartner in Brasilien haben uns in den letzten Wochen und Monaten mit großer Sorge diesen politischen Prozess gespiegelt. Sie haben uns ihre Sorge mitgeteilt, dass die Sozialprogramme gekürzt werden. Sie fürchten auch, dass die Korruption nicht bekämpft werden wird, sondern noch stärker voranschreitet als bisher. Nicht zuletzt hat der Oberste Gerichtshof besorgniserregende Urteile in den letzten Tagen gefällt.
Das ist das Szenario, mit dem wir rechnen. Wir haben die leise Hoffnung, dass vielleicht so etwas wie ein Willensbildungsprozess auch gerade durch unsere kirchlichen Partner mitbefördert werden kann, eine politische Reform auf den Weg zu bringen. Diese Reform wäre dringend nötig. Aber das sind sehr leise Hoffnungen, die im Moment dieses Umbruchs in der Schublade sind, aber sich nicht unmittelbar im Alltag äußern.
Das Interview führte Verena Tröster.