domradio.de: Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki hat die Reichen aufgerufen, angesichts von Flüchtlingskrise und wachsender sozialer Spaltung mehr gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Am Donnerstag hat der Kardinal noch einmal nachgelegt und im Industrie-Club Düsseldorf die Wahrung ethischer Grundsätze in der Wirtschaft eingefordert. Eine Wirtschaft zu kritisieren, die vielen Menschen in Deutschland ein gutes Leben ermöglicht, ist vielleicht ungewöhnlich. Können Sie die Kritik von Kardinal Woelki dennoch nachvollziehen?
Prof. Dr. Peter Schallenberg (Sozialethiker an der Theologischen Fakultät in Paderborn): Ja, das kann ich nachvollziehen, weil die Marktwirtschaft davon lebt, dass sie ständig kritisiert wird. Sie ist sozusagen ein Prozess schöpferischer Zerstörung. Sie setzt immer wieder neue Energien frei, aber es gibt auch immer wieder Pleiten. Wir erleben das im Augenblick an verschiedenen Stellen. Man denke nur beispielsweise an Unternehmen wie Air Berlin, wo sich die Frage stellt, wie das Unternehmen überleben kann. Es gibt immer wieder neue Entwicklungen. Die Marktwirtschaft selber lebt davon, dass Menschen darauf hinweisen, dass es kein statisches System ist, das ein für alle Mal festgeschrieben wird, sondern dass es ein sich entwickelndes System ist. Das bedeutet, je mehr Wohlstand und Reichtum erwirtschaftet werden, desto mehr muss immer darauf geachtet werden, ob dieser Reichtum allen Menschen im Land zugutekommt oder ob sich die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert.
domradio.de: Es ist also eine Kritik an dem System Marktwirtschaft selbst. Auch der Papst hatte die Marktwirtschaft kritisiert. Er hatte gesagt, dass diese Wirtschaft töte. Was ist für Sie als Sozialethiker so tödlich an der Marktwirtschaft?
Schallenberg: An der Marktwirtschaft selber ist tödlich, dass der Wettbewerb nicht abgefedert wird, wenn es keine sozialen Grenzen, soziale Kanalisationen und soziale Gesetze gibt. Das ist genau das Spezifische an der sozialen Marktwirtschaft, dass wir sagen, wir wollen nicht einfach eine Marktwirtschaft und ein System des Kapitalismus. Darauf hat Kardinal Woelki jetzt hingewiesen und darauf hatte auch Kardinal Marx vor einiger Zeit in Berlin hingewiesen. Wir wollen vielmehr ein System, das durch den Wettbewerb möglichst allen Menschen im Staat Anteil, Partizipation und Integration bietet. Also sollte der erwirtschaftete Reichtum dann möglichst allen Menschen nutzbar gemacht werden und sie daran teilhaben lassen.
domradio.de: Es soll also ein gerechte Verteilung erzielt werden. Wie soll das aussehen?
Schallenberg: Die gerechte Verteilung ist das grundlegende Problem. Das geht nicht nur über Steuern, sondern wesentlich über Bildung. Wir können die Debatten in unserem Land ja momentan sehr schön verfolgen. Georg Krämer, der Generalsekretär des Caritasverbandes, hat ein interessantes Buch über Armut in Deutschland geschrieben, wo er sehr akribisch der Frage nachgeht, was für Armut wir in Deutschland eigentlich haben. Alleinerziehende Mütter sind da ein Thema, Rentenempfängerinnen und Rentenempfänger teilweise ebenso. Da muss man genau hinschauen. Ein wesentlicher Punkt ist die Verteilung der Bildung und der Bildungschancen, so dass Menschen Möglichkeiten haben, später auf dem Arbeitsmarkt tätig zu sein. Das ist das Entscheidende der Sozialen Marktwirtschaft in unserem Land und gar nicht unbedingt die Frage nach der höchsten Steuerquote.
domradio.de: Ist das nicht ein Klagen auf hohem Niveau? Der Bundeshaushalt steigert Jahr für Jahr seine Sozialausgaben, und dennoch beklagt der Kölner Erzbischof eine wachsende Entsolidarisierung in Deutschland?
Schallenberg: Ich möchte Kardinal Woelki da in Schutz nehmen. Es ist die Aufgabe der Kirche - theologisch nennt sich das "prophetisches Amt der Kirche", angelehnt an die Propheten im alten Bund, im alten Volk Israel -, nicht in erster Linie weiße Salbe auf politische und ökologische Systeme zu schmieren und zu sagen, alles sei gut. Ja, wir klagen auf hohem Niveau. Aber diese Klage hat ihre eigene Berechtigung. Diese Klage ist sozusagen systemisch notwendig. Wenn in einer Ehe, in einer Familie, in einer Freundschaft die Menschen sagen würden, jetzt ist es gut, wird es sich von da an verschlechtern.
Es ist die Aufgabe, sich ständig neu zu bemühen. Dafür braucht es Energie, langen Atem, Geduld und das gilt genauso für die soziale Marktwirtschaft. Das heißt, wir müssen darauf achten, was überhaupt noch falsch ist. Der Papst hat das im großen Stil gemacht und gesagt, die Wirtschaft töte, wenn sie keine soziale Gesetzgebung hat. Er blickt dabei besonders auf den lateinamerikanischen und US-amerikanischen Kapitalismus mit entsetzlich großen Spaltungen der Gesellschaft zwischen Arm und Reich. Das ist bei uns nicht der Fall, aber dennoch gibt es auch bei uns Möglichkeiten der weiteren Verbesserung, und daran arbeiten wir.
domradio.de: Könnte man also sagen, wir sind eine stichelnde Opposition, die sozusagen das Gewissen der Marktwirtschaft bildet?
Schallenberg: Das könnte man so sagen. Das ist vielleicht keine angenehme Rolle und man macht sich bestimmt nicht immer Freunde damit. Besonders macht man sich keine Freunde, wenn man selber in unserem Land an diesem System auch partizipiert, also eine verhältnismäßig reiche Kirche ist. Die Leute sagen dann, was meckern die denn über die Marktwirtschaft? Die profitieren doch davon. Das ist alles zuzugeben und stimmt auch.
Aber dennoch ist es die Aufgabe der Kirche, ganz eindeutig für die Schwächeren einzutreten. In jeder Gesellschaft, in jedem Land gibt es schwächere Menschen, die seitlich in die Straßengräben fallen und wo dann ein barmherziger Samariter gefragt ist. Ich glaube, dass der Kardinal insofern Recht hat und die katholische Kirche Recht hat, wenn sie sagt, man müsse immer darauf schauen - aber professionell draufschauen und nicht marktschreierisch - wo Menschen sind, die nicht in unsere Gesellschaft und den Arbeitsmarkt oder die Bildungschancen integriert sind.
Das Interview führte Silvia Ochlast.