Behinderte warnen vor Diskriminierung durch Teilhabegesetz

"Teilhabe statt Ausgrenzung"

Tausende bunter Punkte im Himmel der Hauptstadt: Vor dem Brandenburger Tor ließen Demonstranten ihre Forderungen an die Bundesregierung für eine bessere Unterstützung behinderter Menschen an Luftballons in den Himmel steigen.

 (DR)

Mehrere Tausend Menschen haben am Montag in Berlin Nachbesserungen beim geplanten Bundesteilhabegesetz gefordert. Ansonsten drohe die Ausgrenzung und Schlechterstellung von einem Teil der Behinderten, warnten zahlreiche Redner von Sozialverbänden. Vor dem Brandenburger Tor versammelten sich unter dem Motto "Teilhabe statt Ausgrenzung" etwa 2.500 Menschen zu einer Kundgebung der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Vor dem Paul-Löbe-Haus am Reichstagsgebäude kamen rund 3.000 Menschen zusammen. Auch die Blinden und Sehbehinderten hatten zu einer Kundgebung aufgerufen.

Anlass war eine Expertenanhörung im Bundestag zur Reform der Eingliederungshilfe. Anspruch auf diese Leistungen haben behinderte Menschen, die Assistenz benötigen, um am Arbeitsleben und am Alltagsleben teilzunehmen. Dazu zählen neben persönlichen Assistenten, etwa Fahrdienste, Gebärden-Dolmetscher oder auch ein Blindenhund.

Ein Zeichen gegen Ausgrenzung

Bundestagsvizepräsidentin Ulla Schmidt (SPD) warnte als Bundesvorsitzende der Lebenshilfe vor einer Diskriminierung einzelner Behindertengruppen. So dürfe der Zugang zu Leistungen nicht davon abhängen, dass Menschen in mindestens fünf Lebensbereichen Einschränkungen aufweisen. Damit drohen nach Ansicht der Verbände etwa Blinde, Hörgeschädigte und psychisch kranke Menschen, die Assistenz benötigen, aus dem System zu fallen.

Sie übergab an die zuständigen Ausschussvorsitzenden des Parlaments über 150.000 Unterschriften. Die Signaturen seien "ein Zeichen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung - und für mehr Teilhabe", sagte Schmidt.

Begrenzte Ansparmöglichkeiten

Getragen werden die seit Monaten andauernden Proteste gegen den vorliegenden Gesetzentwurf von einem breiten Bündnis, angefangen beim Deutschen Behindertenrat über Fach-, Sozial- und Wohlfahrtsverbände bis hin zu den Gewerkschaften. Sie fordern Nachbesserungen an dem Entwurf von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD).

Die Verbände fordern weiter, die Anrechnung von Einkommen und Ersparnissen zu beenden. Bisher dürfen behinderte Menschen nur 2.600 Euro sparen, wenn sie Eingliederungshilfe erhalten. Von ihrem Einkommen müssen sie ebenfalls einen großen Teil abgeben, wenn sie im Berufsleben Assistenz benötigen. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass sie künftig von ihren Ersparnissen und vom Einkommen mehr behalten können. Nicht geplant ist aber, auf die Anrechnung ganz zu verzichten.

Frage der Assistenz

Wer allerdings neben der Eingliederungshilfe als Behinderter auch Hilfe zur Pflege beziehen muss, werde weiterhin nach den Regelungen des Sozialhilferechts behandelt, kritisierte Nancy Poser, Richterin und Mitglied im Forum behinderter Juristinnen und Juristen. Auch die Schaffung von Vermögen, etwa als Altersvorsorge bleibe behindertenbedingt limitiert, sagte Poser. So sei etwa eine Lebensversicherung oder die Anschaffung einer Wohnung zum Vermieten weiterhin nicht möglich.

Weiter verlangen die Verbände, dass behinderte Menschen selbst entscheiden können sollen, wo und wie sie wohnen. Die Gesetzespläne könnten dazu führen, dass sie im Heim leben müssen, weil die Kosten für eine einzelne Assistenz in der eigenen Wohnung zu hoch sind. Die Kritik richtet sich auch gegen das sogenannte Zwangspooling, wonach sich mehrere Behinderte einer Einrichtung eine Assistenz teilen sollen.

Politiker fordern Überarbeitung des Gesetzentwurfs

Die Opposition im Bundestag fordert eine weitreichende Überarbeitung des Gesetzentwurfs. Die Grünen erklärten, die Regierung habe mit einem Beteiligungsverfahren vor der Reform bei behinderten Menschen hohe Erwartungen geweckt. Der Gesetzentwurf sei aber eine "Enttäuschung". Er werde die Situation nur für wenige Menschen verbessern. Die Linksfraktion wertete den Entwurf als "Rückschritt".

Die kommunalen Spitzenverbände sehen den Gesetzentwurf kritisch, weil sie steigende Ausgaben befürchten. Die Präsidenten des Deutschen Städtetages, Oberbürgermeisterin Eva Lohse, erklärte, es sei ein wesentliches Reformziel, "die bisherige Ausgabendynamik zu dämpfen und keine neue Ausgabendynamik zu erzeugen". Der Entwurf enthalte dazu jedoch "keine hinreichenden Maßnahmen".

Der Gesetzentwurf zum Bundesteilhabegesetz soll Anfang Dezember im Bundestag verabschiedet werden. Der Bundesrat beschäftigt sich damit voraussichtlich Mitte Dezember.


Proteste zum Bundesteilhabegesetz / © Holger Hollemann (dpa)
Proteste zum Bundesteilhabegesetz / © Holger Hollemann ( dpa )
Quelle:
epd