"Entschuldigung, was läuft denn hier gerade ab?", fragt eine junge Studentin auf dem Fahrrad. - "Ah, Sankt Martin ist gerade am Ufer angekommen", berichtet sie brühwarm der Freundin am Handy.
Sankt Martin also... Erstaunlich viele Bürger von Tours, mit Lampions und ohne, sind am Vorabend des Martinstages auf den Beinen, um uralte Brauchtumsfäden wieder aufzunehmen. Tours beginnt - ganz gemächlich, wie es die Art ist in der Region Touraine - den kulturellen und religiösen Schatz seiner antiken und mittelalterlichen Vergangenheit neu zu heben. Wann, wenn nicht heute? Sankt Martin 2016 ist der Höhepunkt der Feiern zum 1.700. Geburtstag des heiligen Bischofs von Tours.
Martinsstatue und ein halber Mantel unterwegs
Mit Brassband und Bengalos an Bord legte am Donnerstagabend ein Tross traditioneller Lastkähne am Ufer der Loire an, um (symbolisch) den Heiligen abzuliefern. Seit Mittwochmorgen waren eine Martinsstatue und ein halber Mantel von Candes aus auf dem Weg. Sie stellten eine historische Szene nach: Am 8. November 397 war der Bischof bei einem Pfarreibesuch gestorben - und die Bürger von Tours mussten schon auf Entführung zurückgreifen, um ihren begehrten Heiligen zurückzubekommen.
Auf der Loire wurde der Leichnam damals zurückgetreidelt, um dann, drei Tage später und 50 Kilometer weiter, in seiner Bischofsstadt beigesetzt zu werden. Gut 1.600 Jahre später ist die Ankunft ein Spektakel. Aber besser ein Spektakel als keins - denn spätestens seit den Religionskriegen des 16./17. Jahrhunderts waren die reichen Martinstraditionen in Frankreich verdampft.
Beziehung: Kirche und Staat in Frankreich
Eine typisch französische Pikanterie dabei: Seit dem Gesetz von 1905 arbeiten Kirche und Staat kaum mehr geschmeidig zusammen. Selbst 111 Jahre nach ihrer Trennung und mit dem Vorlauf von Jahrhunderten klappt es auch zum 11.11. nicht gut. Die Erzdiözese Tours veranstaltete zum Höhepunkt des Martinsjahres vor der Kathedrale Saint-Gatien einen traditionellen Laternenumzug der Kinder. Zeitgleich waren die Bürger von den Stadtoberen aufgefordert, sich am Flussufer einzufinden, um die Martinsstatue in Empfang zu nehmen.
Und auch im Anschluss verlief das Geschehen in zwei Richtungen: bürgerliche Reden und Spektakel in der Altstadt - und kaum 200 Meter entfernt in der Basilika eine religiöse Segensfeier mit Erzbischof Bernard-Nicolas Aubertin. Sie können beide scheinbar nicht aus ihrer Haut; die Verlängerung eines postrevolutionären Streits.
Martinskirche als Anziehungspunkt
Die Martinskirche von Tours ist der Nachfolgebau einer riesigen mittelalterlichen Basilika, über Jahrhunderte eine zentrale Station auf dem Jakobsweg und eines der wichtigsten Pilgerziele Europas. Im Zuge der Religionskriege verfiel der romanische Bau und wurde nach der Revolution fast komplett abgerissen. Erst nach langen, fast handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Laizisten fiel 1886 die Entscheidung für einen Neubau.
Warum der Martinstag inzwischen von einem völlig anderen Ereignis überdeckt ist, kann man in der Krypta der Basilika entdecken, ganz nahe beim Grab des Heiligen. Dort ließ der Oberkommandierende der Westalliierten, Marschall Ferdinand Foch, eine Danktafel für den Sieg im Ersten Weltkrieg anbringen. Sie trägt das Datum der Unterzeichnung des Waffenstillstands: den 11. November 1918. Experten schließen nicht aus, dass der tief katholische Foch den Tag der deutschen Kapitulation bewusst auf Martini legte - hatte er doch kurz zuvor noch in einer Martinskirche dafür gebetet.
Pauken und Trompeten
Seitdem ist der 11. November in Frankreich staatlicher Feiertag: "Armistice", Waffenstillstand. Ein weiterer Sargnagel für die Martinsverehrung. Und so ist auch der erste Gottesdienst in der Basilika an diesem Freitagmorgen 2016 eine Soldatenmesse mit Pauken und Trompeten. Nun ja: Am Anfang war der heilige Martin schließlich auch mal Soldat - bis er seinen Mantel mit einem anderen teilte.
Antoine Selosse vom Europäischen Kulturzentrum Martin von Tours hat freilich auch für diese historische Schere schon einen ziemlich guten Plan: Der 11. November 2018, der 100. Jahrestag des Waffenstillstands, fällt ausgerechnet auf einen Sonntag. An diesem Tag, so hofft er, werden die Elf-Uhr-Glocken wieder für den Europäer Martin läuten - und nicht mehr nur für die alten Kameraden.