KNA: Die Weihnachtsgeschichte ist für viele eine eher rührende, herzerwärmende Geschichte mit Hirten, Sternen und Engelgesang. Was verbinden Sie persönlich mit dieser Geschichte?
Söding: Natürlich ist es für mich auch einfach eine wunderbare Geschichte. Ein kleines Kind, in dem uns Gott begegnet, das kann man ja gar nicht erfinden. Aber es ist eben auch ein ganz großes Drama: die Herrschaft der Römer, die Tyrannei des Herodes - da passiert enorm viel. Es knallt, es gibt Mord, Flucht und Vertreibung. Und das alles gehört zu Weihnachten auch dazu.
KNA: In unserem Weihnachtsgefühl spielt das alles aber keine so große Rolle.
Söding: Im Weihnachtsgottesdienst selber werden ja nur Ausschnitte vorgelesen. Da verschwinden das Brutale und die Härten der Geschichte hinter Engelsgesang und Harmonie. Ich bin auch nicht dagegen, dass das gemacht wird. Aber ich bin schon dafür, dass man nicht nur Weihnachten in die Kirche geht. Im kirchlichen Festkalender kommt dann ja gleich das Fest der unschuldigen Kinder, das empfinden viele als Zumutung. Da wird dann knallhart die Geschichte von der Ermordung der Kinder Bethlehems durch Herodes erzählt. Diesen Zusammenhang wahrzunehmen, das fällt schwer. Das ist aber die eigentliche Tiefenherausforderung des Glaubens.
KNA: Was ist denn die theologische Kernaussage dieser dunklen Aspekte von Kindermord und Flucht nach Ägypten?
Söding: Wenn Gott zu den Menschen kommt, wird es nicht nur Beifallsstürme geben. Dann wird die dunkle Seite des Menschen aufgedeckt: Menschen sind aggressiv gegen Gott, aggressiv gegen Menschen, die sich auf die Seite Gottes stellen wollen. Jesus hat diese Geschichte am eigenen Leib erfahren. Damit wird seine Geschichte glaubwürdig.
KNA: Ist die Fluchtgeschichte nicht auch eine Herausforderung für diejenigen, die sich heutzutage so gern auf das christliche Abendland berufen und Flüchtlinge ablehnen?
Söding: Ganz sicher. Wer vom christlichen Abendland redet und das als politische Parole verwendet, hat ja oft überhaupt keine Vorstellung davon, was zum christlichen Abendland gehört. Das christliche Abendland lebt religiös und kulturell vom Morgenland, das Neue Testament ist genau in den Regionen entstanden, aus denen jetzt die Menschen zu uns kommen. Übrigens auch eine ganze Anzahl von Christen.
Und wenn sie Muslime sind und ihren Glauben ernst nehmen, haben sie kein schlechtes Bild von Jesus und Maria. Da gibt es sehr viel mehr Übereinstimmungen, als das im öffentlichen Raum häufig diskutiert wird. Es ist es eine wichtige Aufgabe der Kirchen, auch diese religiösen Gemeinsamkeiten zum Klingen zu bringen.
KNA: Empfehlen Sie den Predigern in den Weihnachtsgottesdiensten, doch eher die schöne Stimmung zu zerstören und auf die aktuelle Flüchtlingssituation einzugehen?
Söding: Prediger unterliegen immer wieder der Versuchung zu moralisieren. Das finde ich nicht gut, auch nicht in der Weihnachtspredigt. Die Predigten sollten aber durchaus die Augen für die Realität öffnen. Die Kirchen, gerade viele Gemeinden, sind ja sehr aktiv bei Flüchtlingshilfe und Integration. Gott sei Dank. Der Zusammenhang der Weihnachtsgeschichte mit der heutigen politischen Herausforderung ist klar. Wer diese Verbindung nicht erkennt, der sollte lieber Weihnachten die Finger von einer Predigt lassen.
KNA: Was heißt das für unser Gottesbild, wenn Jesus ein Flüchtling war und wegen ihm laut Evangelium andere Kinder umgebracht wurden? Ist das nicht eine seltsame Gottesvorstellung, dass ein Gottessohn so gedemütigt wird?
Söding: Ja, und deswegen gibt es seit der Antike scharfen Widerspruch gegen den Bericht, dass ein Gottessohn ein Flüchtling sein könnte. Das lässt sich doch kaum mit der Vorstellung eines allmächtigen Gottes vereinbaren. Genau das aber ist die christliche Gottesvorstellung: Als Kind ist Jesus ein Flüchtling. Als Mann stirbt er hilflos am Kreuz. Und beides Mal geschieht Rettung.
KNA: Nun gibt es große Zweifel daran, ob sich der Kindermord von Bethlehem historisch wirklich ereignet hat...
Söding: Den Bericht über den Kindermord gibt es nur im Neuen Testament bei Matthäus; in keiner anderen Quelle ist ein solches Ereignis beschrieben. Und deswegen muss man ganz nüchtern ein Fragezeichen setzen. Richtig ist, dass Herodes ein äußerst brutaler Herrscher gewesen ist, der seine eigenen Kinder hat umbringen lassen, um seinen Thron zu retten. Da steckt möglicherweise der Kern der historischen Wahrheit, die dann auf das Evangelium abgefärbt hat.
Diese Geschichten haben dann wiederum die Realität verändert. Der Bericht von der der Flucht nach Ägypten hat eine enorme Bedeutung für das Christentum in Ägypten bekommen.
KNA: Aber es ist doch eher unrealistisch, dass eine kleine Familie aus Israel bis nach Ägypten flieht...
Söding: Das ist ein langer Weg, aber ich würde nicht sagen, dass das völlig außerhalb des damaligen Horizonts gewesen ist. Wo sollten Flüchtlinge hin? Wenn ich das Alte Testament betrachte, haben wir immer wieder diese Flüchtlingsroute über den Sinai, mal in die eine Richtung, mal in die andere Richtung. Die Kindheitsgeschichte Jesu öffnet also den Horizont, geht über Bethlehem, Nazareth und Jerusalem hinaus. Grenzen werden in Jesu Leben von Anfang an überschritten.
KNA: Immer wieder hat Ägypten eine besondere Bedeutung für Israel - bis heute.
Söding: Diese Ägyptengeschichte von Matthäus ist für die damaligen Juden und Christen eine starke Provokation: In seinem Heimatland war Jesus tödlich bedroht. Er musste ins ferne und häufig feindliche Ägypten flüchten, um zu überleben. Zugespitzt könnte man sagen: Jesus wurde ein Ägypter, wie Mose. Ägypten ist also nicht nur der Feind und das Sklavenhaus. Manchmal ist es auch ein Zufluchtsort. Schon Josef und seine Brüder wurden dort vor einer Hungersnot gerettet. Das sind die Inspirationen, die von solchen Bibeltexten ausgehen sollen.
KNA: Es sind ja nur zwei Evangelisten, die diese Geschichten erzählen.
Söding: In der Tat, es sind nur Matthäus und Lukas. Es sind allerdings auch nur zwei Evangelisten, die das Vaterunser haben und es sind übrigens dieselben. Das ist halt so.
KNA: Wie kommt das?
Söding: Man kann eher von Glück sagen, dass überhaupt etwas überliefert worden ist. Da waren viele Zufälle im Spiel. Lukas berichtet, wie er sein Evangelium geschrieben hat: Er hat alle verstreuten Informationen gesammelt und sie dann nicht einfach eins zu eins übernommen, sondern ausgewählt, weggelassen und das Übrige in eine Ordnung und einen Sinnzusammenhang gebracht. Das ist keine neutrale Berichterstattung, sondern es ist ein Glaubenszeugnis in Form einer Erzählung. Matthäus und Lukas haben dabei das Glück gehabt, die Bethlehem-Geschichten gehört zu haben.
Das Interview führte Christoph Arens.