Der frühere Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio plädiert für eine neue Debatte über das Verhältnis von Staat und Religion. Während die Politik das "manchmal Sperrige und Absolute der Religion" akzeptiere, müssten Gläubige ihrerseits die Bedingungen eines gelingenden Verfassungsstaats achten, schreibt der Bonner Jurist in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (Donnerstag).
"Daran gemessen, ist das Beharren auf kompromissloser Durchsetzung religiös begründeter Verhaltensgebote in öffentlichen Einrichtungen ein Rückschritt, der nicht dem Verfassungsprinzip wohlwollender Neutralität entspricht."
Neutralitätsgebot gilt auch für Richter
Der freiheitliche Verfassungsstaat dürfe von den Religionen Respekt dafür erwarten, dass er als demokratischer Staat zur Neutralität verpflichtet sei, fügt Di Fabio hinzu. "Ist es zu viel verlangt, dass eine Muslimin, die als Richterin diese voraussetzungsvolle Rechtsordnung repräsentiert, im Gerichtssaal ihrerseits ein Zeichen der Neutralität gibt", fragt der Jurist mit Blick auf die Kopftuchdebatte.
Neutral könne die Demokratie nur sein, wenn sie "trotz wohlwollender Kooperation inhaltlich sichtbar Distanz zu Glaubensgewissheiten und Weltanschauungen hält".
Maßstab der Dinge: Das Grundgesetz
Die in der Verfassung verankerten Grundrechte erwiesen dem Glauben an das Absolute Respekt, schreibt der Verfassungsrechtler weiter. Andererseits könne die Glaubens- und Gewissensfreheit keinen absoluten Geltungsanspruch gegenüber anderen Grundrechten und zu den Staatsstrukturen und Institutionen mit Verfassungsrang beanspruchen.
Das demokratisch beschlossene Gesetz dürfe gegenüber der Berufung auf absolute religiöse oder weltanschauliche Gebote nicht zurückweichen. Die überwältigende Mehrheit von Christen, Juden oder Muslimen im Land respektiere diesen Zusammenhang, schreibt Di Fabio. Die Fähigkeit, die eigene - selbst die absolut gesetzte - Position mit den Augen des anderen zu wägen und womöglich zu relativieren, sei Grundlage eines toleranten Zusammenlebens.