Zu seinem 92. Geburtstag blickt Cardenal zurück.
KNA: Herr Cardenal, wo und wie leben Sie heute?
Ernesto Cardenal: Ich lebe in Managua [Hauptstadt von Nicaragua]. Ich lebe fast allein, begleitet von einer Dame, die für mich kocht, und einem Fahrer, der mich über Tag begleitet. Wenn ich abends weg will, suche ich jemanden, der mich begleitet. Gesundheitlich geht es mir noch gut.
KNA: Sind Sie noch dichterisch aktiv?
Cardenal: Als Poet schreibe ich weniger, weil ich weniger Themen finde, über die ich schreiben könnte.
KNA: Vor über drei Jahrzehnten wurden Sie als katholischer Priester suspendiert. Haben Sie sich mit der Kirche versöhnt?
Cardenal: Mit der Kirche hat bei mir deshalb keine Versöhnung stattgefunden, weil ich niemals von ihr getrennt war. Ich habe einfach eine Strafe dafür bekommen, ein Regierungsamt bekleidet zu haben. Ich durfte danach keine Sakramente mehr spenden. Aber dieses Verbot betrifft mich nicht, weil meine Priesterschaft nicht für ein pastorales Leben gewesen ist und um Sakramente zu spenden, sondern um ein kontemplatives Leben zu leben. Und dieses lebe ich weiter, immer verbunden mit meiner Kirche.
KNA: Wie bewerten Sie die Rolle der Kirche in Nicaragua und in diesem Zusammenhang Ihre eigene?
Cardenal: In Nicaragua, wie in allen Teilen der Welt, hat es immer zwei Kirchen gegeben: eine fortschrittliche und eine konservative. Die eine ist mit den Armen und die andere mit den Reichen. Die eine ist Jesus Christus treu und die andere nicht. Ich bin immer noch bei den Armen. Und in diesem Sinn stufe ich mich weiterhin als Marxist ein, weil ich eine Gesellschaft ohne Klassen will.
KNA: In einem Interview haben Sie einmal voller Begeisterung von Papst Franziskus geschwärmt. Hält Ihr Enthusiasmus an?
Cardenal: Papst Franziskus begeistert mich immer weiter. Er ist einer der großen Päpste der Kirche, der dabei ist, eine Revolution im Vatikan zu machen und die Kirche zu verändern. Er will, dass die Kirche zu dem zurückkehrt, was Christus wollte: eine Kirche der Armen.
KNA: Ist Ihre Heimat Nicaragua auf einem guten Weg?
Cardenal: Nicaragua ist aktuell eine Diktatur von einem Ehepaar und dessen Kindern [Anm.: der Clan um Daniel Ortega, der kürzlich zum vierten Mal als Staatspräsident vereidigt wurde]. Was die Zukunft bringen wird, weiß ich nicht. Ich wünsche nur, dass diese Diktatur endet.
KNA: Würden Sie Nicaragua als Reiseziel empfehlen?
Cardenal: Nicaragua ist ein sehr schönes Land und ein guter Platz, um es als Tourist zu besuchen, aber nicht, um wie früher, eine Revolution vorzufinden. Es gibt keine Revolution mehr.
KNA: In Ihrer Heimatstadt Granada waren Sie 1987 Mitbegründer des "Hauses der drei Welten", Casa de los Tres Mundos. Diese Stiftung versteht sich als Kultur- und Entwicklungsinstitution zur Förderung von Kulturprojekten mit sozialem Schwerpunkt. Ein wichtiger Fokus liegt auf der künstlerischen und musikalischen Kinder- und Jugendausbildung. Lässt sich die Einrichtung als so etwas wie Ihr Vermächtnis bezeichnen?
Cardenal: Die Casa de los Tres Mundos in Granada ist eine sehr wichtige kulturelle Institution und hat ein großes Werk verrichtet. Aber ich bin niemals direkt beteiligt gewesen. Ich habe der Stiftung nur meinen Namen zur Verfügung gestellt, als ich Kulturminister bei der Revolution von Nicaragua war.
KNA: Eine Frage an Sie als Poeten: Welches Werk würden Sie rückblickend als Ihr wichtigstes einstufen?
Cardenal: Es ist das ausführliche kosmische Gedicht Cantico Cosmico, "Kosmischer Gesang".
KNA: Wenn Sie einen persönlichen Wunsch äußern dürften: Was wäre dieser?
Cardenal: Mein einziger persönlicher Wunsch ist die Erfüllung des Himmelreiches auf Erden.
KNA: In Kürze werden Sie 92 Jahre alt. Was bedeutet der Tod für Sie?
Cardenal: Der Tod ist für mich der Schritt zur Wiederauferstehung.
Das Interview führte Andreas Drouve.