domradio.de: Warum ist die Situation für Flüchtlingskinder in Notunterkünften in Deutschland so schwierig?
Ninja Charbonneau (Unicef-Sprecherin Deutschland): Wir müssen generell sagen, dass es kein einheitliches Bild gibt. Die Situation ist sehr unterschiedlich. Sie unterscheidet sich je nach Bundesland, Kommune und Flüchtlingseinrichtung. Es gibt sehr viele tolle Einrichtungen mit engagierten Mitarbeiten und Behörden. Die tun sehr viel, um es den Flüchtlingskindern so gut wie möglich zu machen. Nichtsdestotrotz stellen wir mit Sorge fest, dass viele Kinder und Jugendliche über viele Monate in Einrichtungen untergebracht sind, die weder sicher noch kindgerecht sind. Die Kinder und Jugendlichen dort sind nicht ausreichend geschützt, und es gibt teilweise keine abschließbaren Räume, Toiletten oder Duschen. Es fehlen Schutzkonzepte und überall, wo viele fremde Menschen zusammen auf engem Raum leben, entstehen Probleme und Spannungen. Auch die hygienische Situation lässt dabei zu wünschen übrig.
domradio.de: In wie vielen Unterkünften in Deutschland geht es den Kindern prozentual gesehen nicht gut?
Charbonneau: Nein, das wissen wir nicht. Das ist ein Problem; es gibt wenig verlässliche Zahlen und Informationen über die Situation von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Es gibt auch keine Statistiken darüber, wie viele sich aktuell in großen Flüchtlingsunterkünften aufhalten und wie viele davon in schwierigen Umständen sind. Wir haben festgestellt, dass unter unseren 447 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die wir in einer Online-Umfrage befragt haben, viele ihre Sorge wegen fehlender Privatsphäre, fehlender Ruheräume, Stress und schlechten hygienischen Bedingungen geäußert haben. Für viele Familien ist die Versorgung mit Sachleistungen wichtig, zum Beispiel das Kantinenessen. Es gibt Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben. Außerdem ist an die Unterbringungsform auch häufig der Zugang zur Bildung gekoppelt. Gerade Kinder und Jugendliche, die sich in Erstaufnahmeeinrichtungen aufhalten, sind zum Teil schulpflichtig. Das kann sich über Monate hinziehen, bis sie einen Platz an einer Schule haben. Erst dann können sie richtig ankommen.
domradio.de: UNICEF und das Bundesfamilienministerium haben im Frühjahr 2016 eine Initiative zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und Frauen in Flüchtlingsunterkünften gestartet. Es wurden Mindeststandards zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und Frauen in Flüchtlingsunterkünften entwickelt. Was gehört zu diesen Mindeststandards?
Charbonneau: Diese Standards werden aktuell überarbeitet, es wird stetig an die Situation angepasst. Zusammen mit dem Familienministerium und seinen Partnern sind wir dabei, das zu verbreiten. Wir haben in Deutschland bereits 25 "Konsultationseinrichtungen" im Rahmen der Initiative, bei denen es jeweils einen Koordinator gibt, der für den Gewaltschutz zuständig ist. Das Familienministerium fördert in diesem Jahr 75 weitere Stellen und Einrichtungen, die dazukommen sollen. Diese werden von UNICEF-Mitarbeitern geschult. Die Idee ist, dass sie dieses Wissen in einem Schneeballsystem in andere Einrichtungen weitertragen. Was allerdings fehlt, und das fordern wir gemeinsam mit dem Bundesfamilienministerium, ist eine bundesgesetzliche Regelung die vorschreibt, dass es verbindliche Mindeststandards geben muss. Bisher ist das freiwillig, und wir finden es wichtig, dass sich das ändert.
domradio.de: Was sollte der Mindeststandard bei der Unterbringung von Flüchtlingskindern sein?
Charbonneau: Unserer Ansicht nach sollten Kinder und Jugendliche aufgrund der genannten Schwierigkeiten nur so kurz wie möglich in großen Flüchtlingsunterkünften untergebracht sein. Aber solange es sich nicht vermeiden lässt, sollten dort Mindeststandards gelten, damit sich die Frauen und Kinder dort sicher vor Übergriffen sind. Es sollte außerdem feste Ansprechpartner und Abläufe geben, die regeln, was passiert, falls es doch zu Vorkommnissen kommen sollte. Dazu gehört auch, dass die Kinder allgemein ein schützendes und förderndes Umfeld haben. Dazu gehören auch für sie geeignete Räume mit strukturierten Angeboten, wo sie nicht nur spielen können, sondern nach Möglichkeit von geschulten Mitarbeitern Angebote kriegen, die ihnen auch psychosoziale Hilfe leisten. So können sie erkennen, welche Kinder mehr unter traumatischen Erlebnissen leiden als andere und spezialisierte Hilfe benötigen.
Das Gespräch führte Heike Sicconi.