Unicef-Vorsitzender mahnt zum Jubiläum

"Jedes Kind ist nur einmal Kind"

Vor 70 Jahren, am 11. Dezember 1946, wurde das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, Unicef, gegründet. Der Vorsitzende von Unicef Deutschland, Jürgen Heraeus, berichtet im Interview über Entwicklungen und neue Herausforderungen.

Einsamer Teddybär / © Frank Rumpenhorst (dpa)
Einsamer Teddybär / © Frank Rumpenhorst ( dpa )

KNA: Im Jahr 1946 wurde das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen gegründet, um Kindern im vom Krieg verwüsteten Europa zu helfen. Ist die Arbeit 70 Jahre später einfacher oder schwieriger geworden?

Jürgen Heraeus (Vorsitzender von Unicef Deutschland): Der Gründungsgedanke von Unicef, allen Kindern, auch denen der ehemaligen Feinde, zu helfen, war damals mutig und zukunftsweisend. Die Hilfe hat sich seither weltweit weiterentwickelt und professionalisiert. Wir haben heute bessere Medikamente und Impfstoffe, bessere Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten. Wir verfügen über größeres Wissen, wie wir zum Beispiel schwer mangelernährten Kindern helfen können. Fast alle Staaten haben die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet, die allen Kindern ein Recht auf Überleben, Entwicklung, Schutz und Beteiligung garantiert. Trotzdem wird Unicef beispielsweise in Syrien seit Monaten der Zugang zu Hunderttausenden Kindern verwehrt.

KNA: Die Aufmerksamkeit für die Flüchtlinge in Syrien und den Nachbarländern ist verhältnismäßig groß, andernorts etwa in Nigeria verblasst das Elend angesichts der Dauerkrise. Wie gestaltet sich die Arbeit von Unicef mit Blick auf Katastrophen und dauerhafte Missstände?

Heraeus: Über 250 Millionen Kinder auf dieser Erde wachsen in einer Umgebung auf, in denen Gewalt und bewaffnete Konflikte herrschen. Die Folge ist, dass immer mehr Mittel in die jährlich rund 300 Nothilfeeinsätze von Unicef fließen statt in Entwicklungshilfe. Da viele Krisen - wie zum Beispiel im Nahen Osten oder in Afrika - sehr lange andauern, wird es immer wichtiger, akute Nothilfe und langfristige Maßnahmen miteinander zu verbinden. Rund ein Viertel der weltweiten Nothilfegelder von Unicef gehen deshalb in Notschulen und Bildungsprogramme, um die Kinder in den Krisenländern zu stabilisieren. Wir sind dankbar, dass die deutsche Bundesregierung zum Beispiel im Nahen Osten die Bildungsprogramme für Flüchtlingskinder stark unterstützt.

KNA: Wo ist Unicef aktuell besonders gefordert?

Heraeus: In Syrien und seinen Nachbarländern führt Unicef den derzeit größten Nothilfeeinsatz durch. Dort müssen vor dem sechsten Kriegswinter Hunderttausende Kinder mit dem Nötigsten versorgt werden. Allein bei den Kämpfen zur Befreiung der irakischen Stadt Mossul stehen über 500.000 Kinder zwischen den Fronten. Von der internationalen Aufmerksamkeit vergleichsweise wenig beachtet werden die Folgen der anhaltenden Dürre und des Klimawandels im westlichen und südlichen Afrika. Hunger und Krankheiten verschärfen dort die Situation der ärmsten Kinder und ihrer Familien dramatisch. Wir müssen den Ländern helfen, bedrohte Kinder frühzeitig zu identifizieren und Hilfen zum Beispiel durch Ernährungszenten organisieren, bevor es für viele zu spät ist.

KNA: Insbesondere in Katastrophensituationen wird immer häufiger kritisiert, dass zu viele Hilfswerke versuchen zu helfen. Sehen Sie die Gefahr eines Wetteiferns der Hilfsorganisationen?

Heraeus: Die Koordination von humanitärer Hilfe ist in den letzten Jahren besser worden. Das konnte man Anfang Oktober - trotz aller Probleme - nach dem Hurrikan Matthew in Haiti sehen. Ein sogenannter Cluster-Approach legt Verantwortlichkeiten und Aufgaben zum Beispiel für die Wasserversorgung oder den Kinderschutz fest. Unicef ist in der Regel vor, während und nach einer Katastrophe in einem Land tätig. Hierdurch kann man ein Netzwerk von Partnern und Kommunikationslinien zur Regierung aufbauen. Ein großes Problem ist es, wenn ein Land keine funktionsfähige Regierung oder Verwaltung hat. Die mediale Aufmerksamkeit kann auch dazu führen, dass plötzlich Hilfsorganisationen in einem Krisengebiet auftauchen, die keine Beziehung zu dem Land haben oder die nicht nach internationalen Standards arbeiten. Koordinationsprobleme können sich dadurch erheblich verschärfen.

KNA: Als Teil eines Wettbewerbs scheint es wichtig, dass die Spender wissen, was mit ihrem Geld passiert. Wie zeigen Sie, wo Spenden zum Einsatz kommen?

Heraeus: Das Internet hat neue Möglichkeiten eröffnet, den Spendern zu zeigen, was ihre Hilfe bewirkt. Beispielsweise veröffentlichen wir auf unserer Internet- oder auf unserer Facebook-Seite laufend Berichte, Bilder und Videos aus den Programmländern, in denen Kinder, Eltern und Helfer zu Wort kommen. Die konkrete Anschauung ist wichtig, weil die Kinder, für die wir eintreten, nun einmal weit weg leben. Wir zeigen auch die Arbeitsweise der Organisation und berichten über Fortschritte und Herausforderungen in den Programmen sowie sehr umfassend über unsere Finanzen.

KNA: In Deutschland wächst das Spendenvolumen seit Jahren. Wie haben sich für Unicef die Spenderzahl und das Spendenaufkommen entwickelt?

Heraeus: Ich bin sehr dankbar für die große Unterstützung der Bundesbürger für die Unicef-Hilfe. So ist in diesem Jahr die Zahl der Unicef-Patenschaften auf rund 225.000 deutlich gestiegen. Diese regelmäßigen kleinen Beiträge sind ganz wichtig für die Planbarkeit und Flexibilität der Hilfe. Angesichts der weltweiten Krisen und der Not der Kinder spüren viele Menschen vielleicht die Notwendigkeit, rechtzeitig zu helfen, bevor diese Krisen noch größer werden. Denn jedes Kind ist nur einmal Kind.

Das Interview führte Anna Mertens.


Jürgen Heraeus / © Paul Zinken (dpa)
Jürgen Heraeus / © Paul Zinken ( dpa )
Quelle:
KNA