Wenn die Sonne scheint, sagt Don Augusto Bonora, sieht es gar nicht so trist aus. Er spricht von den sogenannten Case bianche im Osten Mailands, den "weißen Häusern": in Beton gegossenes urbanes Elend. Die Farbe blättert ab, in den Fenstern hängen defekte Jalousien. Don Augusto ist Pfarrer von San Galdino, zuständig für gut 1.000 Seelen in diesem Wohnblock. Und an diesem Samstag kommt der Papst.
Besuch im Case bianche
Mailand ist Wirtschaftsmetropole, Börsenplatz, Sitz des Regionalparlaments, unbestrittene Hauptstadt im Norden Italiens, wo angeblich alles besser funktioniert. Franziskus wollte Mailand vom Rand her kennenlernen. Von der Peripherie, sagte er einmal, verstehe man die Wirklichkeit besser als vom Zentrum her. Deshalb besucht er die Case bianche. Der Papst hat gewiss schlimmere Orte gesehen in seinem Leben, die Favelas von Sao Paulo oder die Vorstädte von Bangui in Zentralafrika.
In den Case bianche ist nicht das schreiende Elend zu Hause, auch wenn hier manche Senioren auf 27 Quadratmetern mit Schimmel hausen. Es ist eine unsichtbare Isolierung, die das Leiden ausmacht. Die Tristesse, wenn die Sonne nicht scheint.
Lange waren hier Sozialwohnungen aus der Mussolini-Ära. Ende der 70er Jahre riss man sie ab, errichtete durch einen Bauträger der öffentlichen Hand eine moderne Betonburg - um, wie Caritas-Mitarbeiter Giorgio Sarto sagt, den Bewohnern die Würde wiederzugeben: "Und jetzt sind sie nicht integriert."
Eigentlich ist es kein schlechtes Viertel: Der Flughafen Linate und das Zentrum liegen nah, es gibt Grünanlagen. Aber rechts und links der Via Oreste Salomone unterscheidet man fein, wer Wohneigentum in einem der gepflegten Blocks der Nachbarschaft besitzt und wer in den Case bianche zur Miete wohnt.
Gefühl von Unsicherheit
Seit der Fertigstellung sei praktisch kein Handwerker mehr aufgetaucht, klagen Bewohner. Einmal besuchte Mailands Kardinal Angelo Scola eine alte Frau in der neunten Etage. Runter musste er zu Fuß, mit geraffter Soutane, weil der Aufzug streikte. Kein Pförtner führt Aufsicht. In den offenen Durchgängen richteten sich Dealer und Drücker ein.
"Es herrscht ein Gefühl von Unsicherheit", sagt Sarto. Nicht, dass die Kriminalität besonders hoch wäre. Es ist mehr ein Gefühl. Es sorgt dafür, dass Nachbarn sich misstrauen. Zu den alteingesessenen Mailändern gesellten sich muslimische Migranten und Roma aus einer nahen Nomaden-Siedlung. All das nährte eine Isolation der Bewohner untereinander und im Viertel.
Isolation: Vor ihr warnt Franziskus immer wieder. Er sieht in ihr fruchtbaren Boden für Konflikte, weil sie dem Dialog entgegensteht. In der Logik seiner Gesellschaftssicht ist deshalb hier, bei den Wohnungen ohne funktionierende Klingel und ohne Namensschild, der natürliche Startpunkt seiner Mailand-Visite.
Zwei bis drei Familien will Franziskus in den Case bianche besuchen - welche, ist nicht bekannt. Nur dass hinter den Türen Krankheit, Alter und Migrationserfahrungen zu Hause sind. Nach Bistumsangaben wurde vereinbart, auf eine Aufhübschung des Wohnblocks zu verzichten. Das hinderte die Stadtverwaltung nicht, rasch ein paar Löcher auf dem Parkplatz zuzuteeren und einen Putztrupp vorbeizuschicken.
Aber selbst wenn die Besuchten in den Case bianche dafür sorgen, dass es bei ihnen etwas feiner aussieht als sonst - Don Augusto glaubt nicht, dass der Papst sich davon blenden lässt. "Er ist ein erfahrener Seelsorger, er kriegt schnell mit, was los ist."
Visite in der Haftanstalt San Vittore
Noch eine andere Peripherie will der Papst bei seinem eintägigen Besuch erkunden: die Haftanstalt San Vittore. Mitten in der Stadt gelegen, verkörpert auch sie dennoch eine Realität am Rand der Gesellschaft. Hier will Franziskus mit Gefangenen, ehrenamtlichen Helfern und Mitarbeitern zusammentreffen.
San Vittore gehört voll und ganz zu Mailand, sagt Gefängnisdirektorin Gloria Manzelli, und: "Strafvollzug ist öffentlicher Dienst." Sie meint damit: Die Öffentlichkeit soll teilhaben, die Gefängnismauern dürfen nicht dicker sein als unbedingt nötig. Es herrschen großzügige Besuchsregeln, anderthalb Dutzend Initiativen und Vereine gestalten das Knastleben mit. Regelmäßig sind Schulklassen zu Gast; Manzelli will sie für die Gefahren falscher Träume, für die Folgen von Kriminalität und Drogen sensibilisieren.
San Vittore ist in gewisser Weise gut dran: Mit rund 880 Insassen liegt die Anstalt deutlich unterhalb der Kapazitätsgrenze, von Überbelegung wie in anderen Gefängnissen Italiens kann keine Rede sein. In San Vittore landet, wer beispielsweise nachts randaliert hat oder gerade in erster Instanz verurteilt wurde. Alles in allem Leute, die schlimmstenfalls erst am Anfang einer Knastlaufbahn stehen. Es ist kein großer Abstand zwischen den Bürgern draußen und den Inhaftierten drinnen.
Unzählige Hände schütteln
Das passt zu dem, was Franziskus über Strafgefangene sagte: "Jedes Mal, wenn ich in ein Gefängnis gehe, frage ich mich: Warum sie - und nicht ich?" Seit seiner Zeit als Erzbischof von Buenos Aires pflegt er regelmäßig Kontakt zu Häftlingen, auch jetzt noch. "Wir können alle einen Fehler machen", sagt er. "Alle haben wir auf die eine oder andere Weise einen Fehler gemacht."
An seinem Tag in Mailand widmet der Papst dem Gefängnis seinen längsten Programmpunkt. Er wird unzählige Hände schütteln. Er wird einige Insassen der berüchtigten Abteilung VI besuchen: dort sitzen die, die sich an Frauen und Kindern vergangen haben. Dann wird er mit
100 Gefangenen zu Mittag essen, Mailänder Risotto und Kotelett, das gleiche Menü für alle. Der Papst, sagt Manzelli, wird für einen Moment die Scheinwerfer auf den Knast lenken, einen Denkanstoß geben. "Das ist nicht wenig."