Vatikan-Experte zur Sicht des Papstes auf Europa

"Eine einzigartige Rolle"

Solidarität gegen Populismus - das hat Papst Franziskus den EU-Staats- und Regierungschefs mit auf den Weg gegeben. "Der Argentinier blickt von außen auf die EU", sagt Vatikan-Experte Ulrich Nersinger. Das sei eine einmalige Chance. 

Die EU-Staats- und Regierungschefs zu Gast im Vatikan / © Osservatore Romano (dpa)
Die EU-Staats- und Regierungschefs zu Gast im Vatikan / © Osservatore Romano ( dpa )

domradio.de: Besuch von wichtigen Menschen, das gehört im Vatikan zur Tagesordnung. Aber der Besuch von allen EU-Regierungschefs hat nochmal eine andere Dimension, oder? 

Ulrich Nersinger (Vatikan-Experte): Ja, das ist doch ein wahnsinniges Erlebnis, vor allem, wenn man bedenkt: Nicht der Papst selbst hat eingeladen, sondern die Staats- und Regierungschefs hatten darum gebeten, vom Papst empfangen zu werden.

domradio.de: Solidarität sei das Mittel gegen Populismus, hat der Papst gesagt. Wie war Ihr Eindruck von der Rede des Papstes?

Nersinger: Ich glaube, der Hauptgedanke des Papstes war, dass er Europa als eine Lebenshaltung sehen möchte, nicht als ein Konstrukt irgendwelcher Protokolle und Verträge. Und dann hat er mehrere Punkte genannt: Dass der Mensch die Mitte und das Herz Europas sein muss, die Solidarität und dass wir in einer falschen Sicherheit leben. Dazu gehört natürlich auch die Problematik der Migration. Dann ist er auf die Förderung und Entwicklung Europas eingegangen und auf die Hoffnung, die er in die Jugend setzt. Wichtig war ihm also vor allem, deutlich zu machen, dass er den Menschen als Kern und als Hauptelement sieht, und dass alles getan werden muss, um diesen Gedanken fortzuführen - solidarisch gegen einen gewissen Populismus, der sich in Europa breit gemacht hat.

domradio.de: Jetzt haben wir ja mit Franziskus den ersten Papst, der nicht aus Europa kommt, sondern aus Argentinien. Spielt denn der Kontinent für ihn überhaupt eine große Rolle?

Nersinger: Ich denke, dass das auch eine Chance ist. Denn wir haben jemanden, der - salopp gesagt - von Außen draufschaut und eine freiere Sicht auf Europa hat. Das ist auch eine Chance. Denn sonst ist man immer auch durch nationale und rein europäische Interessen gehemmt. Und da kann der Papst eine Rolle übernehmen, die fast einzigartig ist.

domradio.de: Sie sind direkt vor Ort im Vatikan. Wie erlebt man denn so einen Tag, wenn die EU-Staats- und Regierungschefs da sind? Darf man da überhaupt aus dem Haus?

Nersinger: Ja, es war schwierig. Wir haben gerade eine Tagung in Campo Santo, die sich auch mit dem politischen Aufstieg des Papsttums beschäftigt. Es war sehr interessant zu sehen, wie das miteinander korrespondiert. Die Teilnehmer unserer Tagung waren am Abend eingeladen zu einem kleinen Empfang beim italienischen Außenministerium. Und wir verließen den Vatikan fast gleichzeitig mit den Staatsgästen.

Das war für mich ein sehr beeindruckendes Bild, wie die Staats- und Regierungschefs regelrecht in verschiedene Richtungen ausschwärmten. Da kam mir der Gedanke: Das ist wie eine Aussendung durch den Papst nach Europa, um die Gedanken, die bei diesem Treffen diskutiert und gesprochen wurden, zu verwirklichen. Also ein sehr, sehr schönes Bild, fand ich. 

domradio.de: Trotzdem ist es ja so, dass der Papst zwar religiöse Macht hat, aber im Prinzip keine politische. Er ist Staatschef im kleinsten Staat der Welt. Welches Gewicht hat denn das Wort eines Papstes für die europäischen Politiker? 

Nersinger: Ich denke doch, ein sehr großes! Bei unserem Emfang beim italienischen Außenministerium gestern Abend gab es auch eine Tischrede, die hielt Pater Lombardi, der ehemalige Pressesprecher des Heiligen Stuhls. Er sprach vom Papst als einem Leader globaler Statur. Vor allem die Person des Franzikus spricht die Politiker an, manchmal mehr als die Gläubigen selbst. 

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.


Ulrich Nersinger / © privat
Ulrich Nersinger / © privat
Quelle:
DR