Bei Themen wie Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit sollten katholische Bischöfe aus Sicht von Kardinal Reinhard Marx durchaus "rote Linien" definieren. "Ein Christ sollte höchste Vorsicht walten lassen, wenn Politiker wieder dem Nationalismus das Wort reden, wenn sie Fremdenfeindlichkeit schüren oder eine ganze Religion zum Feind erklären", sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz im Interview des "Spiegel". "Wenn solche Fahnen aufgezogen werden, kann man als Christ nicht einfach hinterhermarschieren. Da sind wir als katholische Bischöfe aufgerufen, rote Linien zu definieren."
Marx antwortete damit auf die Frage, ob man Christ sein und AfD wählen könne. Er sagte auf die Frage ebenfalls: "Das kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten." Auf die Frage, was er machen würde, wenn die AfD-Führung die Deutsche Bischofskonferenz einmal treffen wolle, sagte der Münchner Kardinal: "Wir haben es bislang immer so gehalten, dass die im Bundestag vertretenen Parteien Gespräche bekommen, wenn sie das wünschen und wir uns auf Themen und Gesprächspartner einigen können."
Marx betonte, Populismus gebe es "von links wie von rechts". Die "großen Vereinfacher suchen nach einem Schuldigen und nach einer simplen Lösung". Der Kardinal betonte: "Für die einen sind es die Reichen, denen man angeblich problemlos etwas wegnehmen kann, damit es den Armen besser geht. Für die anderen sind es die Flüchtlinge und die Forderung: Wenn man die nicht mehr ins Land lässt, wird alles gut." Er zeigte sich zuversichtlich, dass die offene Gesellschaft in Deutschland stark genug sei, "solchen simplen Denkweisen nicht anheimzufallen."
Flexiblerer Renteneintritt gefordert
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz äußerte sich im Interview mit dem "Spiegel" ferner zum Thema Rentenalter. Seiner Ansicht nach solle der Übergang zwischen Beruf und Ruhestand dabei flexibler gestaltet werden. "Warum diese starre Altersgrenze, warum geben wir den Menschen nicht mehr Freiraum?", so Marx. Es werde "wohl so sein", dass die Menschen künftig länger arbeiten müssten. "Die Menschen bleiben ja auch länger gesund, jedenfalls gilt das für die meisten."
Ein Mädchen, das heute geboren werde, werde im Schnitt 83 Jahre oder älter - "dann muss man darüber nachdenken, ob es später nicht auch etwas länger beruflich aktiv bleiben kann", sagte der Kardinal. "Das wäre auch ein Beitrag zur Gerechtigkeit zwischen den Generationen."
Gleichwohl müssten diejenigen, die im Alter ihrem Beruf nicht mehr nachgehen könnten, "ohne große finanzielle Einbußen in den verdienten Ruhestand gehen können", betonte Marx. Allerdings verändere sich die Arbeitswelt: "Körperlich belastende Arbeit nimmt ab, geistige Arbeit nimmt zu. Es gibt viele Menschen, die auch ganz gern ihre Arbeit tun und nicht einfach nur sagen: gut, wenn endlich Schluss ist." Marx sagte auch, dass die Rente "im gesellschaftlichen Konsens zwischen allen Beteiligten ausgehandelt werden" müsse.
Kritik an Hartz IV
Im Hinblick auf die soziale Gerechtigkeit in Deutschland hat sich Kardinal Marx des Weiteren für eine stärkere Besteuerung von Vermögen und Erbschaften ausgesprochen. "Wenn die Vermögensverteilung immer ungleicher wird, dann kann der Staat nicht so tun, als ob ihn das nichts anginge. Im Sinne der Gerechtigkeit müssen Vermögen und Erbschaften, aber auch der Kapitalverkehr stärker besteuert werden", sagte Marx.
In Deutschland herrsche "großer Wohlstand", aber es gehe nicht überall gerecht zu, betonte der Erzbischof von München und Freising. "Die Vermögen sind ungleich verteilt, und die Einkünfte aus Kapital stiegen in den vergangenen Jahren teilweise wesentlich schneller als die aus Arbeit." Auch regional gebe es Unterschiede.
Mit Blick auf die Hartz-IV-Gesetze sagte Marx, dass zwar der Kern die "durchaus richtige Idee des Forderns und Förderns" gewesen sei. "Nur wurden die Ziele, die sich die Politik damals gesetzt hat, nicht alle erreicht", kritisierte der Kardinal. "Wir haben immer noch eine zu hohe verfestigte Arbeitslosigkeit. Und der Regelsatz ist viel zu niedrig, als dass er dazu dienen könnte, den Menschen eine gerechte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu sichern."
Marx sagte, er habe "manchmal den Eindruck, dass der Einfluss der Agenda-Reformen auf die Beschäftigung stark übertrieben wird". Es sei richtig gewesen, "nach einem Weg zu suchen, wie man die Menschen aus der Arbeitslosigkeit wieder herausholen kann". Hilfe zur Selbsthilfe sei auch ein Prinzip der Katholischen Soziallehre. Die Menschen sollten eigenverantwortlich auch mit ihrer Arbeit ihr Leben menschenwürdig gestalten können.
Staat könne regulierend eingreifen
"Dazu reichen die Arbeitsgelegenheiten des Niedriglohnbereiches nicht aus", erklärte der Kardinal. Langfristig gute Arbeitsplätze würden durch Investitionen und nicht durch "Hartz-Gesetze" geschaffen. "Der Niedriglohnbereich sollte ja ein Einstieg sein in einen Normalarbeitsvertrag mit anständiger Entlohnung." Die Hoffnung sei allerdings "nicht ganz aufgegangen".
Das Normalarbeitsverhältnis sei das "Rückgrat unserer Gesellschaft und damit auch der Freiheit", betonte Marx. Wer arbeite, müsse am Ende mehr als nur das Nötigste zum Überleben haben. "Er muss auch am gesellschaftlichen Fortschritt teilnehmen können. Nur so werden wir den Menschen Unsicherheiten und Ängste nehmen."
Der Kardinal sagte, er sei überzeugt davon, dass es den Zusammenhalt und die Solidarität einer Gesellschaft gefährde, wenn Ungleichheit ein "bestimmtes verträgliches Maß übersteigt". Dies könne etwa die Altersversorgung, die Besteuerung, die Chancen auf Bildung und einen Arbeitsplatz, "von dem man leben kann", betreffen.
Auf die Frage, ob es Aufgabe des Staates sei, Fehlentwicklungen zu korrigieren, sagte Marx: "Ganz gewiss sogar, nur sollte er dabei auf die passenden Instrumente zurückgreifen, die Steuern zum Beispiel." Wer mehr Geld habe, müsse mehr zahlen. Das sei der "Kern der Solidarität".