KNA: Herr Butterwegge, Armut - was ist das eigentlich?
Christoph Butterwegge (Politikwissenschaftler und Armutsforscher): Die Armutsforschung unterscheidet zwischen absoluter und relativer Armut. Absolut arm ist jemand, der seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, der hungert, der kein sicheres Trinkwasser hat, über keine Wohnung verfügt oder kein Obdach hat, der keine den klimatischen Bedingungen angemessene Kleidung trägt und eine medizinische Grundversorgung entbehrt.
KNA: Und relativ arm...?
Butterwegge: ... ist jemand, der seine Grundbedürfnisse befriedigen kann, aber sich vieles von dem nicht leisten kann, was in der Gesellschaft, in der er lebt, für fast alle übrigen Mitglieder als normal gilt.
KNA: Das wäre bei uns in Deutschland?
Butterwegge: Mal mit Freunden essen gehen oder sich in Kneipen treffen oder mal ins Kino oder ins Theater gehen zu können. Armut fängt bei uns also nicht erst da an, wo einer hungert oder friert.
KNA: Sind das nicht aber Luxusprobleme einer an sich reichen Gesellschaft?
Butterwegge: Jeder vergleicht sich nun mal mit seinen Mitmenschen, will heißen den anderen Mitgliedern jener Gesellschaft, in der er lebt. Ein Bewohner der Bundesrepublik Deutschland misst sich also nicht mit den alten Germanen, die sich von Wurzeln und Wildbret ernährten oder vielleicht auch trocken Brot aßen, aber auch nicht mit jemandem, der in Bangladesch oder in Burkina Faso kurz vor dem Verhungern steht. Das ist der Grundgedanke, der hinter dem Begriff der relativen Armut steckt.
KNA: Über welche Dimensionen reden wir auf Deutschland bezogen?
Butterwegge: Wenn man die Definition der Europäischen Union übernimmt, denjenigen als relativ arm zu bezeichnen, der weniger als 60 Prozent des mittleren Monatseinkommens zur Verfügung hat, dann sind wir 2015 bei rund 15,7 Prozent.
KNA: Darunter fallen aber dann auch beispielsweise Studenten - die jedoch später vermutlich ein eher hohes Einkommen haben werden.
Butterwegge: Nur wenn sie einen eigenen Haushalt führen, werden sie berücksichtigt. Dafür bleiben mehrere hunderttausend Wohnungs- und Obdachlose, fast eine Million pflegebedürftige und behinderte Menschen in Heimen beziehungsweise vollstationären Einrichtungen, Gefängnisinsassen und die Flüchtlinge in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften unberücksichtigt, weil sie nicht in Haushalten leben. Wenn trotzdem fast ein Sechstel aller Bewohner der Bundesrepublik unter diese Einkommensarmutsgrenze fallen, finde ich das skandalös.
KNA: Warum?
Butterwegge: Weil wir auf der anderen Seite, und das ist ja wenigstens im Namen des Armuts- und Reichtumsberichts enthalten, immer auch den Reichtum mit berücksichtigen müssen. Wer über den Reichtum nicht reden will, der sollte auch über die Armut schweigen.
KNA: Reden wir also über den Reichtum. Was wissen wir darüber?
Butterwegge: Ich nenne in diesem Zusammenhang gerne die Zahl von 994,7 Millionen Euro, die das reichste Geschwisterpaar unseres Landes, Susanne Klatten und Stefan Quandt, im Mai 2016 nur an Dividende aus ihren BMW-Aktien bezogen hat. Oder: Den reichsten Familien unseres Landes lässt sich ein Privatvermögen von 30 Milliarden Euro zuordnen. Wenn man dagegen die maximal 942 Euro hält, die ein Single-Haushalt zur Verfügung hat, der von relativer Armut betroffen ist, dann wird die riesige Kluft sichtbar, die sich da auftut.
KNA: Wie geht der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung auf diese Entwicklung ein?
Butterwegge: Der Bericht verniedlicht und verharmlost den Reichtum, der sich bei uns in wenigen Händen konzentriert. Beispielsweise definiert man als einkommensreich jemanden, der das Zwei- bis Dreifache des mittleren Einkommens zur Verfügung hat.
KNA: Sie klingen skeptisch.
Butterwegge: Kurioserweise gilt dann ein Studienrat wegen seines monatlichen Nettoeinkommens von 3.500 Euro als einkommensreich. Susanne Klatten würde sich vermutlich halbtot lachen, wenn sie das wüsste. Daran kann man sehen, wie auch der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht das Kardinalproblem der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich ideologisch entsorgt, statt ihm auf den Grund zu gehen.
KNA: Was könnte man dagegen tun?
Butterwegge: Nötig wäre zum Beispiel eine Reform des Arbeitsmarktes, die den Namen im Unterschied zu Hartz IV wirklich verdient. Durch die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Liberalisierung der Leiharbeit, die Einführung von Mini- und Midijobs sowie die Erleichterung von Werk- und Honorarverträgen sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse entstanden. Und zwar massenhaft.
KNA: Ihre Forderungen?
Butterwegge: Ein höherer Mindestlohn: Der müsste längst mehr als 10 Euro betragen, um heutige Erwerbs- und spätere Altersarmut verhindern zu können. Außerdem ein Verbot oder eine stärkere Reglementierung der Leiharbeit. Oder die Überführung von Mini- und Midijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.
Änderungsbedarf sehe ich auch bei Hartz IV, das die SPD trotz der kritischen Töne über die Agenda 2010 praktisch unangetastet lassen will. Schließlich müsste Vermögen umverteilt werden, von oben nach unten.
KNA: Wie das?
Butterwegge: Durch eine sozialere Steuerpolitik. Kapital- und Gewinnsteuern, Spitzensteuersatz und Körperschaftsteuer: Alle Steuern, die Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche zahlen müssen, wurden gesenkt oder abgeschafft. Gleichzeitig hat man am 1. Januar 2007 mit der Mehrwertsteuer eine Steuer von 16 auf 19 Prozent erhöht, die besonders große Familien belastet, ganz besonders die von Geringverdienern und Transferleistungsbeziehern.
KNA: Und wenn alles so weiterginge wie bisher?
Butterwegge: Ein weiteres Auseinanderdriften von Arm und Reich stiftet sozialen Unfrieden, weil es dazu führt, dass die Gesellschaft sich nicht harmonisch, demokratisch und human entwickeln kann. Die sozial Benachteiligten verfügen über immer weniger Macht und Einfluss - sie gehen beispielsweise auch seltener zur Wahl.
KNA: Und wenn diese Gruppe doch wählen geht, wird sie dann am ehesten ihr Kreuz bei der AfD machen?
Butterwegge: Das glaube ich nicht, denn die Abgehängten und Ausgegrenzten haben eher resigniert. Die AfD wählt eher jener Teil des Kleinbürgertums, der den sozialen Abstieg fürchtet. Da sehe ich eine gewisse Parallele zum Aufstieg der NSDAP während der Weltwirtschaftskrise gegen Ende der 1920er-/Anfang der 1930er-Jahre und zu den Wahlerfolgen der NPD nach der Rezession 1966/67.