Wie die "Süddeutsche Zeitung" schreibt, wurden Aussagen zum politischen Einfluss von Vermögenden in der überarbeiteten Fassung des Berichts gestrichen. So fehle zum Beispiel der Satz: "Die Wahrscheinlichkeit für eine Politikveränderung ist wesentlich höher, wenn diese Politikveränderung von einer großen Anzahl von Menschen mit höherem Einkommen unterstützt wird." Dies gehe aus einem Vergleich der ersten, vom Bundesarbeitsministerium verfassten Version mit der zweiten Version der Regierungsanalyse hervor, bei dem das Kanzleramt und andere Ministerien mitschreiben konnten.
Ebenso sei die Aussage gestrichen worden, dass Personen mit geringerem Einkommen auf politische Teilhabe verzichten, weil sich die Politik weniger an ihnen orientiere. Auch der Verweis auf eine "klare Schieflage in den politischen Entscheiden zulasten der Armen" fehle in der neuen Fassung, berichtet die Zeitung.
Lauterbach: "Keine Überraschung"
"Wenn sich herausstellt, dass das Kanzleramt dahintersteckt, wäre das unschön und keine Überraschung", sagte SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach der "Berliner Zeitung". Ein Entfernen von Passagen zum politischen Einfluss Vermögender sei für ihn "völlig unverständlich". "Das beschreibt doch, was wir alle wissen", so Lauterbach: "Es ist eine der wichtigsten Facetten von Armut: Der Arme hat keine Stimme."
Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen, Brigitte Pothmer, kritisierte die Streichungen. "Über Demokratie-Defizite muss offen geredet werden, alles andere ist Wasser auf den Mühlen der Populisten", zitiert die Zeitung die Politikerin.
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hatte im März 2015 angekündigt, in dem Bericht erstmals den Einfluss von Eliten und Vermögenden auf politische Entscheidungen untersuchen zu lassen. In den Bericht flossen den Angaben zufolge Erkenntnisse einer Studie des Osnabrücker Politikwissenschaftler Armin Schäfer ein.
Diakonie: "Es gibt viel Handlungsbedarf"
Die beiden kirchlichen Sozialverbände Diakonie und Caritas mahnten angesichts des Armutsberichts weiter großen Handlungsbedarf im Kampf gegen Armut an. "Es ist gut zu analysieren, was Menschen in Deutschland arm macht. Dabei darf es aber nicht bleiben. Wir müssen auch fragen, welche konkreten Maßnahmen die Bundesregierung ergreifen muss, um Armut zu bekämpfen – da gibt es viel Handlungsbedarf", erklärte Diakonie-Präsident Ulrich Lilie.
Ein Grundproblem ist laut Diakonie der ungerechte Familienlastenausgleich. "Ehepaare mit hohem Einkommen werden am stärksten gefördert, während das Armutsrisiko für Alleinerziehende und kinderreiche Familien hoch ist", sagte Lilie. Häufig entscheide zudem der Wohnort darüber, ob jemand am Wohlstand teilhabe. In Deutschland seien mittlerweile ganze Regionen oder Stadtviertel verarmt, so Lilie.
Caritas: "Zusammenhang von schlechten Bildungschancen und Armut"
Auch der Deutsche Caritasverband forderte mit Blick auf den Gesetzentwurf frühzeitige und präventive Hilfen gegen Armut in allen Altersklassen. "Wir dürfen nicht länger in der Analyse von Daten und Fakten steckenbleiben", erklärte Caritas-Präsident Peter Neher. Erneut zeige sich ein enger Zusammenhang von schlechten Bildungschancen und Armut. Diese Tatsache sei seit Langem bekannt, nun müssten endlich die richtigen Schlüsse gezogen werden, mahnte Neher.
Bundesarbeitsministerin Nahles räumte gegenüber der "Bild"-Zeitung Probleme im unteren Einkommenssegment ein. "Die Mitte stabilisiert sich. Das liegt an hoher Beschäftigung und guten Tariflöhnen", sagte Nahles. Doch an den Rändern franse die Gesellschaft aus. "Vor allem niedrige Löhne und Einkommen steigen im Verhältnis viel langsamer. Deshalb: Die soziale Frage bleibt auf der Tagesordnung."
Butterwegge: "Problem wird verharmlost"
Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge warf der Bundesregierung vor, "das Problem der wachsenden Armut in Deutschland zu verharmlosen". Butterwegge, der auch Kandidat der Linken für die Wahl des Bundespräsidenten ist, sagte der "Neuen Osnabrücker Zeitung", auch die seit 2010 im Schnitt gestiegenen Reallöhne seien kein Grund zur Beruhigung.
"Laut dem Bericht sind die Reallöhne zwar gestiegen. Das betrifft aber nicht den Niedriglohnsektor, in dem mittlerweile ein Viertel aller Beschäftigten angestellt ist", betonte Butterwegge. Dass zudem die Zahl der überschuldeten Haushalte in einer guten Konjunkturphase zugenommen habe, verdeutliche, "wie tief gespalten die Gesellschaft ist". Dem Bericht zufolge gab es im Jahr 2006 insgesamt 1,64 Millionen überschuldete Haushalte. Im laufenden Jahr sind es 2,05 Millionen.
Forderung nach Anhebung des Mindestlohns
Um Armut zu bekämpfen, forderte Butterwegge unter anderem eine Anhebung des Mindestlohns auf wenigstens zehn Euro: "Der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro beziehungsweise 8,84 Euro ab kommendem Jahr ist zu gering. Der Niedriglohnsektor ist der Wegbereiter der Armut."
Auch DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell beklagte in der "Neuen Osnabrücker Zeitung", dass die Zahl der überschuldeten Bürger steige. "Diese Entwicklung ist nicht vom Himmel gefallen, sie wurde durch den politisch gewollten und geförderten Ausbau des Niedriglohnsektors befördert." Die arbeitsmarktpolitischen Korrekturen der letzten Jahre allein könnten diesen Trend nicht stoppen, sagte Körzell. "Wir müssen mehr tun: den Niedriglohnsektor austrocknen und Einkommen und Vermögen gerecht besteuern."
Der etwa 600 Seiten starke Armutsbericht wird alle vier Jahre erstellt und soll unter anderem einen Überblick über die Lage auf dem Arbeitsmarkt sowie die Entwicklung der Löhne und Einkommen geben. Der aktuelle Armutsbericht soll im Frühjahr 2017 veröffentlicht werden.