Die Glocken geben keine Ruhe. Um 11.30 Uhr hätte der Gottesdienst in der Marienbasilika eigentlich schon längst begonnen haben sollen. Am Dauergeläut stört sich aber niemand in Kevelaer. Das niederrheinische Städtchen ist Wallfahrer gewöhnt - und auch Verspätungen. Endlich nähern sich unter Posaunentönen die 350 Pilger aus Waldfeucht-Haaren - darunter 45 mit Rädern und 10 mit Pferden.
Die Vierbeiner tänzeln unruhig, als der Zug das kleine sechseckige Gebäude in der Platzmitte umkreist: die sogenannte Gnadenkapelle. Jedes Jahr finden rund 1.000 Gruppen ihren Weg nach Kevelaer - zu Fuß, mit dem Bus, im Auto, per Bahn, auf Pferden oder Motorrädern. Auch Tamilen und Teckelfreunde kommen. Sportler erreichen schon mal mit dem Kanu über die Niers das Ziel: ein Minibild, eine postkartengroße Darstellung der Gottesmutter Maria. Auch die Ehrenrunde der Waldfeucht-Haarener gilt diesem Kupferstich, dem Herz der Gnadenkapelle, ja von ganz Kevelaer.
Ursprung im Dreißigjährigen Krieg
Seit 375 Jahren zieht das Bild Menschen an. Dieses Jubiläum feiert der zweitgrößte Marienwallfahrtsort Deutschlands mit einer Festwoche vom 31. Mai bis zum 11. Juni. Aber schon mit Beginn der Wallfahrtssaison am 1. Mai wird daran erinnert, wie alles seinen Anfang nahm an der alten Handelsstraße von Köln nach Antwerpen.
Es war im Dreißigjährigen Krieg, als Millionen Menschen durch Waffen, Hunger und Seuchen ihr Leben ließen. Soldaten zerstörten auch Kevelaer und töten etwa 100 Menschen. In diesen Zeiten existenzieller Not ergriffen der Handelsmann Hendrick Busman und seine Frau die Initiative, machten sich aus ihrem "geringen Verdienste täglich eine Ersparnis" und kauften Soldaten aus Luxemburg das Papierbild mit der "Trösterin der Betrübten" ab. Sie berichteten von Eingebungen, einen Bildstock zu bauen, in dem das Gnadenbild dann am 1. Juni 1642 seinen Platz fand.
Gnadenkapelle als Schutzhülle
Damit begann eine religiöse Bewegung, die - auch nach Wunderberichten - aus dem kleinen Bauernort eine Wallfahrtsstätte mit derzeit jährlich rund 800.000 Pilgern wachsen ließ. Schon bald wurde für die Pilger ein kleines Gotteshaus, die Kerzenkapelle, gebaut.
Über dem Heiligtum selbst ließen die Kevelaerer wie eine Schutzhülle die Gnadenkapelle entstehen. Ein vergoldeter Silberrahmen um das Madonnen-Bild, eine Ehrenkrone, unzählige Edelsteine und Rosenkränze haben aus dem Kleinod ein Schmuckkästchen gemacht - Zeichen für die Verehrung Marias und die Glaubensgewissheit, dass sie sich für die Anliegen der Beter als Fürsprecherin bei Gott stark macht.
Boom-Zeiten sind längst vorbei
Wenn es im Mai wärmer wird, finden die täglich bis zu 70 Pilgergruppen ein überschaubares Ambiente in dem rund 28.000-Einwohner-Ort: Wenige Schritte von den Gebetsstätten entfernt suchen die typischen Geschäfte mit Kerzen oder dem Christophorus fürs Auto ihre Kundschaft. Der Gasthof zum Goldenen Hammer - hier wurden einmal die Pferde der Pilger beschlagen - verbindet Herberge und Devotionalienladen. "So sahen früher die Pilgergaststätten aus", berichtet Ingeburg Schündelen, die den Familienbetrieb in vierter Generation leitet. In ihren Kinderzeiten seien Pilger mit Sonderzügen und Hunderten von Bussen gekommen, erinnert sie sich.
Diese Boom-Zeiten sind längst vorbei, was auch Bürgermeister Dominik Pichler (SPD) umtreibt. Für ihn ist die Wallfahrt zwar nach wie vor "Alleinstellungsmerkmal" Kevelaers und damit auch Marketing-Argument. Zusätzlich soll unter dem Motto "Gesund an Leib und Seele" ein Pilgerpark mit Thermalbad entstehen, der neben den "klassischen" Katholiken auch andere Menschen anlockt, die Spirituelles suchen.
Immer mehr Individualpilger
Wallfahrtsrektor Rolf Lohmann hat nichts dagegen. Zugleich beobachtet er eine "Renaissance der Wallfahrtsbewegung", wie er sagt. Neben den traditionellen Gruppen kämen immer mehr Individualpilger, die schon rund 40 Prozent der Wallfahrer ausmachten. Hunderte Wachslichter an der rußgeschwärzten Außenwand der Kerzenkapelle selbst im Winter, also außerhalb der eigentlichen Pilgerzeit, bestätigen den Trend. Bewegung und Besinnung: Von dieser Mischung lassen sich laut Lohmann gerade viele junge Menschen begeistern - auch wenn sie der Kirche kritisch gegenüberstehen.