domradio.de: Um die eigenen Mitglieder vor einem möglichen Suizid abzuhalten, setzt Facebook neuerdings auch auf tatkräftige Unterstützung durch Algorithmen. Laut dem sozialen Online-Netzwerk durchforstet der intelligente Algorithmus alle Postings und sogar Live-Video-Streams auf der Seite nach auffälligen Begriffen oder Kommentaren von Freunden, die die Vermutung nahelegen, dass jemand tatsächlich an Suizid denkt. Halten Sie das für einen realistischen Weg?
Annelie Bracke (Leiterin der katholischen Telefonseelsorge in Köln): Ich weiß nur, dass Algorithmen sehr treffsicher sein können. Ich weiß aber auch von unserer Arbeit, dass diese Menschen meistens nicht so direkt sind und sagen: "Ich möchte mir das Leben nehmen." Die meisten Suizidgefährdeten erzählen von ihrem Alltag und machen nur Andeutungen.
domradio.de: Andeutungen? Was für Andeutungen sind das etwa?
Bracke: Zum Beispiel kann das ein Satz sein, wie: "Manchmal habe ich keine Lust mehr und es ist alles zu viel." Das sind so Zwischentöne. Das muss nicht immer auf einen Suizid hindeuten. Aber schon auf solche Gedanken.
domradio.de: Wenn der Algorithmus Anzeichen für eine Suizidgefährdung findet, befasst sich ein Mitarbeiter genauer mit dem Fall und sucht im Zweifel den Kontakt - so Facebook. Vorläufig ist das Tool aber nur in den USA im Einsatz. Wie ist das in Deutschland?
Bracke: Seit 2012 arbeitet die Telefonseelsorge in Deutschland mit Facebook zusammen. Das sieht so aus, dass, wenn jemand in Facebook mitbekommt, dass jemand einen Suizid ankündigt, dann kann derjenige, der das sieht, das an Facebook melden. Dafür gibt es ein Formular. Dort gibt man die Internetadresse des Betroffenen an. Der Betroffene oder die Betroffene bekommt dann von Facebook eine freundliche Mail. Sinngemäß steht dort drin: "Es macht sich jemand Sorgen." Dann wird auf das Angebot der Telefonseelsorge bundesweit hingewiesen und es werden die Nummern genannt, an die sich die Person wenden kann.
domradio.de: Das heißt, ich sollte bei Kommentaren von Facebook-Freunden genauer hinschauen?
Bracke: Man sollte auf solche Untertöne hören.
domradio.de: Man kann aber ja auch total daneben liegen...
Bracke: Diese Überlegung höre ich auch bei den Menschen, die wir ausbilden, immer wieder raus. Es gibt so eine Angst, wenn ich jetzt so einen Gedanken ausspreche, dass man dann denjenigen noch mehr zu dem Entschluss treibt. Das ist aber überhaupt nicht so.
Wenn wir mit den Menschen sprechen, dann sind die Menschen erleichtert. Sie tragen den Gedanken mit sich rum, dann merken sie, sie können drüber sprechen.
domradio.de: Und wenn die Frage nicht zutrifft?
Bracke: Dann sagt jemand: "Nein, wo denken Sie hin, ich hänge am Leben."
Es ist nie falsch, sich zu trauen, das Thema anzusprechen. Man kann ja sagen: "Du machst immer wieder so Andeutungen. Ich bin etwas besorgt. Kann es sein, dass Du gar nicht mehr leben willst?" Wenn dann eine Empörung kommt, oder eine Verneinung, dann kann man sagen: Umso besser. Meistens werden Suizide lange vorher schon angekündigt.
domradio.de: Wie sind bei Ihnen die Erfahrungswerte?
Bracke: Wir haben jetzt noch nicht die Rückmeldung von Betroffenen bekommen, dass jemand gesagt hätte, er ist über Facebook auf uns aufmerksam geworden. Aber ich denke, so differenziert ist jemand der in einer solchen akuten Not steckt, dann auch nicht. Täglich rufen bei uns ein bis zwei Menschen an, denen es um Suizid geht. Nicht immer um akuten Suizid. Aber das ist jetzt nur die Zahl in unserer Stelle - nicht bundesweit.
domradio.de: Wie hoch ist denn in Ihren Augen die Gefahr, dass Suizid-Beiträge einen Nachahmer-Effekt nach sich ziehen?
Bracke: Das ist ja schon lange bekannt. Man kann es auch statistisch nachweisen, wenn in den Medien darüber berichtet wird, dass man da eine ansteigende Suizidrate hat. In dem Sinne ist Facebook ja auch eine Öffentlichkeit. Auch schon nach Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers", wo sich der Werther das Leben nimmt, hat es damals eine große Nachahmer-Welle gegeben.
domradio.de: Geht das auch umgekehrt?
Bracke: Es gibt wohl auch einen umgekehrten Effekt. Wenn über Menschen berichtet wird, die mit schweren Krisen doch irgendwie fertig geworden sind, sodass man daraus Mut schöpfen kann, dann hat das zu rückläufigen Zahlen geführt. Wir schauen natürlich, was machen andere Menschen. Aber niemand nimmt sich das Leben durch einen Bericht oder ein Facebook-Video, der nicht sowieso schon verzweifelt ist. Das kann aber noch mal den letzten Kick geben, das zu tun.
domradio.de: Gibt es auch Anzeichen dafür, dass es jemand verdammt ernst meint?
Bracke: Eigentlich hängen wir ja alle instinktiv am Leben. Da muss schon viel zusammenkommen. Die, die das ernsthaft versuchen, die haben zunehmend einen sogenannten Tunnelblick.
Bei Situationen, wo wir denken, vielleicht finde ich doch noch eine Möglichkeit - zum Beispiel eine neue Arbeit zu finden, oder nach einer Trennung einen neuen Lebenspartner. Diese Menschen können nicht positiv denken und sehen nur das Problem. Wenn einer nicht mehr sehen kann, was sonst noch im Leben ist, oder keinen Mut mehr hat, über die Krisen hinwegzuschauen, dann ist das schon sehr ernst.
domradio.de: Ernst, heißt das auch "ernst nehmen"?
Bracke: Man muss es ernstnehmen, dass jemand sich so fühlt. Es ist meist kontraproduktiv demjenigen aufzulisten, was es alles doch in seinem Leben gibt. Dann macht jemand auch dicht. Das ist so eine Verzweiflung, die man auch erst mal anerkennen muss. Aber wir helfen da gerne weiter.
Das Interview führte Hilde Regeniter.