Adveniat zur angespannten Lage in Brasilien

"Temer klebt am Amt"

Regierungsgegner und Polizei liefern sich in Brasilien Straßenschlachten. Die Demonstranten fordern den Rücktritt des skandalumwitterten Präsidenten Temer. Adveniat-Länderkorrespondent Paffhausen über die Gründe der Wut.

Krawalle in Brasilia / © Eraldo Peres (dpa)
Krawalle in Brasilia / © Eraldo Peres ( dpa )

domradio.de: Warum sind so viele Brasilianer aktuell so empört über Präsident Michel Temer?

Klemens Paffhausen (Länderreferent für Brasilien beim katholischen Lateinamerikahilfswerk Adveniat): Die jetzige Regierung um Temer zeichnet sich durch angekündigte drastische Maßnahmen und Einschnitte in die Rentengesetzgebung und ins Arbeitsrecht aus. Viel tiefergehend ist aber eine Unzufriedenheit über den Schmiergeldskandal. Dieser kommt nicht zur Ruhe und in dem Skandal ist, wie jetzt ein Telefonmitschnitt offenbarte, auch der jetzige Präsident offensichtlich involviert. 

domradio.de: Die Demonstranten und auch die Bischöfe fordern ja den Rücktritt Temers und sofortige Neuwahlen. In den sozialen Netzwerken gibt es viele Kommentare wie "Der Putschist holt jetzt das Militär". Was meinen denn die Leute, die Temer als Putschisten bezeichnen?   

Paffhausen: Vorangegangen ist ja das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff, die demokratisch gewählte Präsidentin. Temer selber ist Vizepräsident gewesen und hat sich dann mit der Opposition verbündet und so den Rücktritt der eigentlichen Präsidentin vorangetrieben. Wenn man soll will, ist Temer jetzt also Präsident, obwohl er nie für dieses Amt gewählt worden ist. Das ist sicher ein Grund. Aber nach wie vor ist das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff fragwürdig zu bewerten. Es ist zwar begründet worden, dass das Ganze auf der Verfassung beruht, aber wie es sich zeigt, scheint Temer viel mehr in den Schmiergeldskandal verwickelt zu sein, als ursprünglich gedacht. Daher sehen es viele als Putsch an, insbesondere, weil er jetzt auch eine Politik durchsetzen will, für die er nicht gewählt worden ist.

domradio.de: Sie stehen ja auch mit ihren Projektpartnern vor Ort in ständigem Kontakt. Wie bewerten die denn die bisherige Politik Temers? Er versucht ja gerade seine neoliberale Agenda umzusetzen. 

Paffhausen: Das Ganze schwankt zwischen Wut und Fassungslosigkeit. Nach wie vor haben breite Kreise der Kirche, vor allem in den ärmeren Gebieten, beispielsweise im Nordosten Brasiliens, immer noch eine Sympathie für die mittlerweile aus dem Amt gekickte Arbeiterpartei um Dilma Rousseff. Das Verhalten Temers in der Sache findet von Seiten der Bischofskonferenz oder unserer Partner auch nicht wirklich Zustimmung. Einflussreiche Bischöfe Brasiliens mahnen zudem ethische und demokratische Gesichtspunkte in dem ganzen Verfahren an. 

domradio.de: Temer schließt eine Rücktritt kategorisch aus. Was meinen sie? Wird es in Brasilien in den kommenden Wochen und Monaten so weitergehen wie bisher?

Paffhausen: Eine Prognose wagt wohl kaum einer. Wahrscheinlich werden wir uns noch an weitere Demonstrationen und wütende Ausschreitungen gewöhnen müssen, wobei dies seit fünf Jahren schon an der Tagesordnung ist. Die Menschen sind sehr unzufrieden und die Politik kommt so nicht zur Ruhe. Ein Ausweg wären vorzeitige Neuwahlen, was auch diskutiert wird. Temer unterscheidet sich jedoch insofern von seiner Vorgängerin, dass er einfach an dem Amt kleben bleibt. Was an den Vorwürfen um den Schmiergeldskandal letzten Endes dran ist, kann man auch mit hundertprozentiger Sicherheit noch nicht sagen, weil es sich auch um irgendwelche manipulierte Mitschnitten handeln könnte .   

Das Interview führte Heike Sicconi.


Quelle:
DR