Wegen fehlenden Fachpersonals und einer ungenügenden finanziellen Ausstattung hinkt die Umsetzung der schulischen Inklusion in Deutschland nach Auffassung des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) ihren eigenen Ansprüchen "weiter hinterher".
Nach einer am Montag im Auftrag des VBE veröffentlichten Forsa-Umfrage unter Lehrkräften fehlen den meisten Inklusionsklassen Sonderpädagogen und geeignete Klassenräume. Bundesweit sind laut Studie derzeit nur elf Prozent aller Schulgebäude vollständig barrierefrei.
Vorwürfe an die Politik
Die Politik habe die Chance verpasst, die Vorteile der Inklusion erlebbar zu machen, sagte der VBE-Bundesvorsitzende Udo Beckmann am Montag in Düsseldorf. "Wer Gelingensbedingungen verweigert, braucht sich nicht wundern, wenn das Gelingen angezweifelt wird."
Allein in Nordrhein-Westfalen fehlen laut VBE 7.000 Sonderpädagogen, um künftig eine konsequente Doppelbesetzung mit zwei Lehrkräften in inklusiven Lerngruppen zu gewährleisten. Derzeit werden landesweit allerdings nur jährlich gut 1.000 Sonderpädagogen ausgebildet.
Verband für "Schwerpunkt-Schulen"
Deshalb tritt der VBE dafür ein, auch bisherige Lehrer über Fort- und Weiterbildungen zu qualifizieren. Vermutlich werde es noch sieben Jahre dauern, bis für alle Inklusionsklassen in NRW ein Sonderpädagoge zur Verfügung stehe, erklärte Beckmann. Daher müsse der gemeinsame Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderung zunächst auf "Schwerpunkt-Schulen" beschränkt und nicht weiter in die Fläche ausgedehnt werden.
Laut Umfrage erteilten die Lehrer in NRW der scheidenden rot-grünen Landesregierung bei der schulischen Inklusion die Note fünf in Personalausstattung. Die künftige Landesregierung sei gut beraten, diese Ergebnisse "nicht schön zu reden oder wegzuwischen", so der VBE-Chef. Die in den laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und FDP bereits erfolgte Verständigung, keine weiteren Förderschulen zu schließen, begrüßte der Lehrerverband. Dies bringe "Ruhe ins System", reiche aber allein nicht aus, so Beckmann.
Weiter verlangt der VBE den Einsatz multiprofessioneller Teams, bauliche Verbesserungen in den Schulgebäuden und kleinere Lerngruppen. Laut Umfrage wurde bundesweit nur bei 40 Prozent aller Inklusionsklassen deren Größe verkleinert; in zwei Drittel aller Fälle müsse der Unterricht von nur einer Lehrkraft gestemmt werden.
Dies belege, dass die inklusive Beschulung ohne Rücksicht auf die Lerngruppengröße "von der Administration durchgedrückt wird", sagte Beckmann.
Fehlende Vorbereitung auf die Aufgabe
Viele Lehrer beklagten, dass es für sie keine besondere Vorbereitung auf das inklusive Unterrichten gegeben habe. Bei 46 Prozent aller Lehrkräfte in NRW und 39 Prozent bundesweit fand demnach nicht einmal ein Vorgespräch statt. Zudem fehle es in 56 Prozent der Schulen an Differenzierungsräumen, in 71 Prozent an eigenen Beratungszimmern.
Die Medikation der behinderten Schüler muss in einem Viertel der Fälle von der Lehrkraft übernommen werden, obwohl es dafür meist an der notwendigen Ausbildung fehlt. Medizin sei immer noch kein Teil der Lehrerausbildung, kritisierte Beckmann. Derzeit seien die Verbände noch bemüht, das Thema Inklusion "in das Curriculum zu bekommen".
Lehrer mehrheitlich pro Inklusion
Trotz der schlechten Bedingungen sprechen sich laut Forsa 60 Prozent aller Lehrkräfte für inklusiven Unterricht aus. Dafür sprächen vor allem die Förderung sozialer Kompetenzen, das soziale Lernen und die Förderung von Toleranz. Ein Fünftel aller Pädagogen sieht in der Inklusion dagegen Nachteile für die Leistungen von Kindern ohne Behinderung.
Zudem glauben sie, dass behinderte Kinder durch den gemeinsamen Unterricht überfordert und frustriert würden. "Die Politik sollte vor Scham im Boden versinken, wenn sie hört, was die Lehrkräfte an Gründen gegen die Inklusion vorbringen", sagte Beckmann. Es fehle an Fachpersonal, an einer ausreichenden materiellen Ausstattung und Fortbildungsmöglichkeiten.
Für die Studie "Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrkräfte in Deutschland - Meinungen, Einstellungen, Erfahrungen" wurden bundesweit 2.050 Lehrer befragt, darunter 501 in Nordrhein-Westfalen.