domradio.de: Sie arbeiten im Therapiezentrum für Folteropfer und Flüchtlingsberatung des Caritasverbandes Köln. Therapiezentrum für Folteropfer - das klingt schrecklich. Sind die Leute, die zu Ihnen kommen, tatsächlich oft Opfer von Folter geworden - in ihren Heimatländern oder auf den Fluchtrouten?
Dr. Brigitte Brand-Wilhelmy (Leiterin des Therapiezentrums für Folteropfer beim Caritasverband für die Stadt Köln e.V.): Ja, durchaus. Wir haben einen großen Prozentsatz an Flüchtlingen, die schwerste Folterungen erlitten haben. Vor allem die Flüchtlinge aus Syrien haben oft unbeschreibliche Qualen erlitten, aber auch Menschen aus anderen Ländern. Da sind wir spezialisiert darauf, um diesen Menschen angemessene, professionelle Hilfe anzubieten.
domradio.de: Wie kommen die Menschen zu Ihnen?
Brand-Wilhelmy: Die Menschen kommen über ihre Exil-Organisationen, über ihre Rechtsanwälte aber auch über städtische Behörden, Freunde oder Verwandte. Wir existieren seit 35 Jahren, da sind wir sehr bekannt auch in der Flüchtlingscommunity.
domradio.de: Was sind das noch für andere typische Umstände oder Ereignisse, die die Menschen so schwer verstören, dass sie wirklich traumatisiert sind?
Brand-Wilhelmy: Es muss nicht immer die Folter sein, wir haben zum Beispiel hier einen Familienvater, der mit seiner Frau und zwei Kindern über das Mittelmeer fliehen wollte. Das Boot ist gesunken, weil es überladen war. Er leidet unbeschreiblich darunter, dass er seine Frau und ein Kind nicht retten konnte. Oder wir haben einen anderen jungen Mann in Therapie, der ebenfalls auf einem überladenen Boot gefahren ist, zusammen mit seiner Schwester. Ein Teil der Menschen wurde über Bord geworfen, seine Schwester war dabei, sie konnte nicht schwimmen. Und er sah sie versinken im Wasser und hat unbeschreibliche Schuldgefühle, dass er überlebt hat und sie gestorben ist.
domradio.de: Wie versuchen Sie in Ihrem Zentrum, den Betroffenen zu helfen?
Brand-Wilhelmy: Wir versuchen zunächst einmal zu stabilisieren. Wir bieten eine Kombination an aus Sozialarbeit - damit die sozialen Probleme auch angegangen werden - und einer speziellen Trauma-Therapie. Wir wollen ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Wir vermitteln Techniken zur Beruhigung. Dann versuchen wir die Traumata zu bearbeiten. Das ist oft ein lebenslanger Prozess bei so schweren Verletzungen.
domradio.de: Forscher sagen, dass Traumata alles erschweren: die Sprache zu lernen, eine Ausbildung oder einen Job zu finden, überhaupt ein normales Leben zu führen. Das können Sie bestätigen?
Brand-Wilhelmy: Das ist vollkommen richtig, weil ein Teil der Symptomatik auch Merk- und Gedächtnisstörungen beinhaltet. Die Menschen können sich oft schlecht konzentrieren, vergessen schnell und brauchen mehr Wiederholungen. Es ist sehr wichtig, dass man im Lernprozess da Rücksicht nimmt. Das ist keine Faulheit pder fehlender Wille.
domradio.de: haben Sie hier im Erzbistum ausreichend Möglichkeiten, Betroffene aufzunehmen und zu behandeln? Wie sieht das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage in Ihrem Fall aus?
Brand-Wilhelmy: Das ist kein gutes Verhältnis. Wir haben sehr viel mehr Nachfragen als wir unmittelbar betreuen können. Daher haben wir eine Clearingstelle aufgebaut, wo wir auch an niedergelassene Kollegen vermitteln. Wir haben da ein Netzwerk aufgebaut von ungefähr hundert niedergelassenen Kinder- und Erwachsenentherapeuten. Die schwersten Fälle, die einfach zu komplex sind für die Weitervermittlung, stellen wir erstmal auf eine Warteliste. Kinder warten momentan fünf Monate, Erwachsenen um die elf Monate, das ist natürlich sehr schlecht. Je früher wir nach dem Traumata die Therapie anbietet, umso größer sind die Heilungschancen. Alle Zentren brauchen eine größere finanzielle Ausstattung und Absicherung.
domradio.de: Was wären neben der Finanzierung weitere dringende Schritte, die jetzt in die Wege geleitet werden müssen?
Brand-Wilhelmy: Es muss Vorsorge getroffen werden, dass z.B. Dolmetscherkosten auch von den Krankenkassen oder anderen Geldgebern übernommen werden. Dies ist oft auch nicht der Fall, wodurch niedergelassene Kollegen es sehr schwer haben, Therapien anzubieten. Es gibt seit 2005 eine EU-Richtlinie, die Traumatisierten angemessene medizinische und psychotherapeutische Hilfe zusagt. Allerdings fehlt die Umsetzung, es fehlen die Maßnahmen, die Regeln, wie Schutzbedürftige besonders identifiziert werden können. Da muss dringend nachgebessert werden.
Und die Gesetzesänderungen, die zu einer Verschärfung des Asylrechtes und auch zu Abschiebung geführt haben, sollten neu überdacht werden. Insbesondere auch die praktische Aufhebung des Familiennachzuges für Flüchtige mit einem nachrangigen Aufenthalt. Es ist schlimm, wenn traumatisierte Menschen ihre Familienmitglieder nicht nachholen dürfen. Denn dann können sie sich auch nicht konzentrieren auf Lernen oder andere Dinge im Leben.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.